Ein Mann in Blau

Nein, hier passiert nichts.
Die Tram ist ohne uns abgefahren, jetzt stehen wir hier. Es regnet und die Straßenlaterne über uns geht an und aus, aus und an, und der Wind pfeift in den Drähten, an denen sie hängt. Auf dem Gehsteig läuft einer vorbei, still und genau geradeaus, wie ein Schlafwandler, ungestört vom unsteten Licht, er sieht uns nicht, vielleicht ist er blind. Wir stehen zehn Minuten hier, und dann fährt die nächste Bahn. Die Laterne schwankt, da oben zwischen den Fassaden. Drinnen an den Wänden der Schlafzimmer werden jetzt wohl die Schatten wandern, hin und her, sie werden größer, wie sie über die Wand gleiten, her und hin. Gleich fallen sie über das Bett, in dem jemand liegt, mit schreckgeweiteten Augen, die Decke bis über die Nase gezogen. Er wagt es nicht, aufzustehen und die Vorhänge zu schließen. Sie bewegen sich im Wind, der durch die Fensterritzen fährt. Es ist nur der Wind. Es ist nur ein Schatten, der über die Wand kriecht, beinah bis zum Bett; dann kehrt er um. Die Laterne schwingt. Jetzt kommt er zurück. Beinah —

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Dieser Saal ist beinah voll besetzt. Manche, die in den langen Stuhlreihen ganz außen sitzen sollten, ziehen es vor zu stehen, an die Säulen gelehnt, auf denen die Galerie ruht. So können sie den Sänger besser sehen, vorne auf der Bühne. Das Licht ist wirklich sehr gut heute Abend, der Beleuchter nimmt die Wände zur Leinwand, dann zieht dort oben Musik über die Täfelung und die Wandgemälde hinter den Rängen leuchten auf, in Bändern und Kreisen – hier das Horn eines Stieres; hier eine Hand, die einen Zweig hält. Hier ein Apfel und Trauben. Die Lüster unter den Balken, selbst dunkel, sehen im Schlaglicht Vogelkäfigen gleich. Draußen im Vestibül leuchten kristallene Blütenkelche; hier drinnen unter der hohen Decke aber sitzen die stummen Glühbirnen hinter dichten drahtdünnen Stäben, von den fremden neuen Theaterleuchten angestrahlt, wie kleine graue Vögel, denen im Getöse das Singen vergangen ist. Das Licht wandert, in Rosetten und Schleifen, und man sieht: hier die Erdkugel auf einer gequälten Schulter, beinah zu schwer und fast im Rutschen. Hier ein gespannter Bogen und Finger, die sich schon von der Sehne lösen.
Dann erlöschen die Scheinwerfer. Der Lichtregen geht ganz auf die Bühne nieder, auf den kleinen schwarzgekleideten Mann mit der großen Stimme und auf die strombetriebenen Tonmaschinen um ihn herum.

In ihrem elektrischen Zirpen und Schnarren ist es nicht leicht, das Geräusch als falsch auszumachen. Es ist ein Schnalzen und ein doppeltes Sirren, kurz und außer dem Takt, nur daran hört man es; und ein dumpfes Klopfen, Metall und Holz in Stoff und Fleisch. Etwas kippt und rutscht auf den Boden.

Aber alle Augen sind nach vorne gerichtet. Der Sänger schweigt zwar gerade nach der letzten Zeile der Strophe, aber er füllt die Bühne doch mit seiner Anwesenheit, wie er umherwandert zwischen den Apparaten und seinen Musikern, denen er für einen Durchgang das Feld überlässt. Als das Licht wieder schwenkt, hinauf zu den eingesperrten Glühbirnen und dem Geländer der Galerie, ist es rot.
Etwas tropft. Ja, eindeutig, es tropft zwischen den filigran geschmiedeten Ornamenten der Balustrade herab. Man beginnt jetzt dort oben sich umzusehen, man bemerkt die Lücke im dicht gefüllten Rang, Füße scharren, und man streckt sich, verdreht die Hälse, um besser zu sehen. Unten wird es ebenfalls unruhig, manche Gesichter wenden sich zur Decke empor, manche Hände strecken sich irritiert aus, tropft es? regnet es etwa herein in den Prachtsaal?, und sie sehen von hier unten, was hinter dem Rücken derer dort oben geschieht, während sie dort betrachten, was in ihrer Mitte zwischen den Sitzen liegt, den Pfeil in der Seite; und im letzten Licht von der Bühne sieht man Augen sich weiten, Münder sich öffnen, bevor die Weltkugel ganz von der Schulter rutscht und stürzt. Die Galerie birst. Gleich wird auch der Saalboden bersten.

Nein, wir stehen am Rand zwischen den Säulen. Es passiert nichts. Uns passiert gar nichts.

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Licht!

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Es scheint, ich bin der einzige Besucher. Der Kartenverkäufer und ich sind allein im Kinosaal. Er muss durch den Vorführraum über der letzten Reihe hereingekommen sein. Jetzt steht er zwischen der Leinwand und dem alten Klavier und heißt mich noch einmal willkommen. – Wir sind heute leider etwas unterbesetzt, Sie sind das ganze Publikum und ich der einzige Angestellte … sagt er und lacht verlegen, er hält sich dabei eine Hand vor den Mund, wie Menschen, die befürchten, hässliche Zähne zu haben. Ich stehe unschlüssig neben der Sitzreihe, es ist mir ganz unangenehm, dass all der Aufwand nur wegen mir betrieben werden soll, auch wenn wenigstens die Musik unter diesen Umständen ja ausfallen wird. Ich frage, ob wir es dann nicht besser bleiben lassen sollen, ich könne den Film sicher ein ander Mal – aber nein, nein, ich soll mich ruhig setzen, es stehe schließlich im Programm, und es sei ihm eine Freude … nur die Einführung könne er leider nicht so geben wie geplant, der Direktor habe vergessen, seine Notizen zu hinterlegen, wenn es mir recht sei, ob wir gleich mit der Vorstellung beginnen möchten – ? Ja, ja, das ist mir sehr recht, ich bin immer noch verlegen. Ich lasse mich im zweiten Sitz der Reihe nieder und erwarte, dass er nun nur noch den Film starten wird, den ich dann in völliger Stille sehen werde, während er hoffentlich etwas lesen kann, oder einen Tee trinken, zwischen dem Filmrollenwechseln. Und er geht auch nach hinten, ich höre das Rattern des alten Vorführapparates, dann geht das Licht aus, und der Film beginnt.

Menschen, schwarz und weiß, taumeln über die Leinwand, auf der Flucht vor etwas, sie sehen sich um mit geweiteten Augen, aber man begreift nicht, was sie so ängstigt. Sie laufen, sie stürzen, sie trampeln übereinander, und das Klavier läuft und stürzt und überschlägt sich mit ihnen. Das Klavier, ja – ich sehe jetzt, dass der Filmvorführer sich dort niedergelassen hat und mit geschwinden Händen spielt, den Blick auf die Leinwand gerichtet. Ein Mann von Talent, offenbar; doch es ist mir peinlich, ich bin ja sein einziges Publikum. Ich verstehe immer noch nicht, was die Masse im Film so erschreckt, aber dann kann man am Rand des Bildes eine dunkle Gestalt erkennen. Im Schlagschatten zwischen hohen Häuserfronten steht ein hagerer, gebückter Mensch und versteckt etwas unter dem Arm. Allgemeine Panik. Der Boden schwankt, unter der Musik liegt ein dumpfes Grollen in der Luft, sie haben die letzten Jahre eine Untergrundbahn gebaut, zu nah an dieses alte Gebäude, wo sie nun die Vorstellungen stört. Man hört durch das Erdreich und die Wände, wie sie fährt, immer schneller und schneller, es wird dunkel im Tunnel, die Fahrt geht rasch hinab, schwache Laternen neben den Gleisen, LichtLichtLicht und wieder Dunkel, nein, mir schwindelt nur, es sind die drei matten Glühbirnen über dem Klavier, die dem Musiker die Noten erhellen. Jetzt stehen sie wieder still. Der Pianist macht eine Kunstpause, während die Leinwand ein Standbild zeigt, einen bleichen Mann im schwarzen Mantel, der mich aus den Schatten heraus immer weiter anstarrt, während er sich schon umdreht und geht und das gebogene Messer in der Tasche verbirgt.

Jetzt setzt der Mann am Klavier wieder ein, langsam und getragen, man sieht eine neue Straßenszene, aber im Sonnenlicht jetzt, man flaniert, die Musik wird heiter, junge Frauen am Arm ihrer Galanen lachen und riechen an Blumensträußen, Kinder und kleine Hunde spielen Fangen zwischen den promenierenden Beinen, großes Gelächter über einen alten Mann, der wider Willen mitgewirbelt mit dem Krückstock droht und schimpft. Auch die Lampen drehen sich wieder, sachte, und der Saal mit ihnen, und die Menschen auf der Leinwand strömen um mich her, sie sitzen in den leeren Klappsesseln, sie balancieren auf Zehenspitzen zu ihren Plätzen, und im Takt der Musik drehen sie sich nach mir um und sehen mich an, dann neigen sie sich zu ihrem Nachbarn und sagen etwas zu ihm, und der Nachbar dreht sich ebenfalls nach mir um, einen Takt später, einen missbilligenden Zug um den Mund oder ein helles Lachen mit Mühe unterdrückend, ein Glockenspiel fremder Belustigung und Rüge. Es geht immer noch den Tunnel hinab, langsamer jetzt, die Lampen ziehen vor den Fenstern vorüber, nackte Glühbirnen und lose Kabel an bloßem Beton, Abzweigungen, Steigleitern, im Nebentunnel fährt ein Zug in die andere Richtung vorbei, und ich hebe die Hand und grüße mich, wie ich da drüben aus dem Fenster blicke, denn ich sehe traurig aus und kann wohl ein freundliches Gesicht gebrauchen. Jetzt kommt eine Haltestelle, vor dem Fenster ist schon der Bahnsteig zu sehen, ich stehe auf, um auszusteigen, aber all ihre langen Beine und das viele Gepäck verstellen mir den Weg und ich falle zurück auf meinen Sitz, als die Bahn mit einem Ruck wieder anfährt und alle Türen mit einem Knall schließen – es ist der Klavierdeckel, er ist über die Tasten gefallen und das Instrument bebt, der ganze Saal bebt, sie klatschen alle wie wild für den Musiker, der sich hastig verneigt und zur Geige greift, während er hinter dem Saal die nächste Filmrolle einstartet, da ist das Blinkzeichen, und jetzt geht es auf einmal schnell, schnell, viel zu schnell – Licht im Tunnel und wieder Dunkelheit, Kurven über Kurven, der Zug schlingert und stürzt in die Nacht, auf der Leinwand Tag, hektische Betriebsamkeit, Abend, man wogt dem Theater entgegen, man stürzt durch die Pforten, alle Laternen flammen auf, die Scheinwerfer brennen, schwenken ihre Lichtkegel in die Kamera und lassen sie geblendet im Dunkel zurück, der Bogen jammert auf den Saiten ein hektisches Klagen und das Klavier spielt dazu, während der Vorführer doch noch immer mit der Filmrolle kämpft, die sich in die falsche Richtung abwickelt und sich um ihn schlingt wie die Schlangen um Laokoon, und ich bin wieder zwölf Jahre alt und muss mit schamrotem Gesicht die Frage des Kunstlehrers beantworten, woran man Laokoons Qual noch erkenne, außer an seinem schmerzverzerrten Gesicht und den verdrehten Gliedmaßen – und jetzt sitzt er neben mir, der Vorführer, er hält mich umklammert, ich spüre seinen Atem an meinem Hals, und die letzte Rolle läuft durch und niemand hält sie an. Das Filmband flattert und schnalzt lose durch den Apparat, während sich die Rolle immer weiter dreht, weiter und weiter weiter, die Leinwand wird hell und wieder dunkel, und wieder hell und wieder dunkel und wiederhellundunkelund whwddwhdwhwdhdhwwwwd kommt das fliegende Ende der Projektionslampe zu nahe, es ist Nitrofilm, er explodiert in eine Stichflamme und ist fort, ehe er den Boden berührt, ich sehe nur Weiß –

 

Das Licht im Saal ist wieder angegangen.

 

Ich sitze in meinem Klappsessel fast am Ende der Reihe, verschwitzt und die Knie seltsam fast bis zur Brust gezogen. Der Film muss vorbei sein, es kam mir so merkwürdig kurz vor, auch kann ich nicht nicht recht erinnern, von was er handelte. Vielleicht bin ich eingeschlafen. Es ist mir sehr unangenehm. All der Aufwand einer Vorstellung nur für mich, und dann schlafe ich ein. Ich hoffe, der eifrige Kartenverkäufer hat es nicht bemerkt. Ich höre ihn hinter dem Saal hantieren und die Rollen stoppen. Dann öffnet er das Fenster zum Zuschauerraum und sagt, Entschuldigung, ich habe das Ende des Films verpasst … aber haben Sie ihn bis zum leider etwas uneleganten Schluss hoffentlich genießen können? Ich setze mich zurecht, ziehe den Mantel gerade, der sich um mich gewickelt hat, und stammle ja ja, sehr guter Film, vielen Dank noch einmal … — Keine Ursache, sagt er, es war mir eine Freude! Es ist gut, dass sich Menschen noch für diese alten Filme interessieren … Er wird jetzt sehr gesprächig, während ich noch immer ganz benommen bin. Die Luft hier unten muss sehr schlecht sein. Ich stolpere auf dem Weg zur Tür.

Er redet die ganze Zeit, während wir die Treppe zum Foyer hinaufsteigen, ich weiß nicht was, ich wünschte, er würde schweigen; und ich wünschte, er würde nicht schräg hinter mir die Stufen hinaufgehen und mir nicht sanft in den Rücken fassen und mich stützen, als mir die Knie nachgeben. Ich wünschte, ich wäre alleine und zu Hause und könnte das Sausen in meinen Ohren beruhigen. Auf dem Platz vor dem alten Filmtheater werden die Leute Kaffee trinken und Kuchen essen in der hellen Sommernachmittagssonne, vielleicht setze ich mich dort auch ein wenig hin, um wieder zu mir zu kommen.

Aber als über den letzten Stufen die Glastür des Vestibüls auftaucht, ist der Sonnenschein auf dem Pflaster draußen ein wütendes Gleißen; er tobt und will mich erschlagen —! Ich taumle die Treppe hinunter, und der Arm des Vorführers fängt mich allzu sanft auf. Ich stoße ihn von mir und stehe an die Wand gepresst, ich sehe ihn entsetzt an. Entschuldigend, halb schmeichelnd, hebt er mir eine Hand entgegen, doch ich weiche noch weiter, eine Stufe nach unten und noch eine, ihn nicht aus den Augen lassend, meine Handflächen an der kühlen Täfelung tasten nach Halt. Er lässt den Arm sinken und senkt auch den Kopf, sein Seufzen ist ergeben und geduldig. In der Brusttasche seines altertümlichen Rocks nestelt er nach etwas, während er sich zum Gehen wendet, dann dreht er sich noch einmal nach mir um, eine Nickelbrille in den nervösen langen Fingern, und sagt: Es dämmert schon bald, Sie müssen nicht lange hier warten … Wir sehen uns heute Abend vielleicht beim Konzert? – Sie sehen …? nein! Ich weiß von keinem Konzert … welches Konzert! – Der große V. singt in der Oper … Kommen Sie! Kommen Sie doch bitte mit, ich habe ganz hervorragende Karten … Er setzt die Brille auf, sie hat kreisrunde Gläser, sie sind tiefblau, seine Augen verschwinden ganz dahinter. Er legt die Hand auf die Brust und neigt höflich den Oberkörper, dann geht er hinaus ins brennende Licht.

Ich stehe im dunklen Treppenhaus, noch immer an die Wand gepresst. Dann sinke ich auf die Knie.

 

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Als ich den Film zum ersten Mal sah, war ich noch ein Junge. Ich wunderte mich darüber, dass der Vampir seinen Sarg bei Sonnenschein durch die Straßen trug. Nun kürzlich erfuhr ich, dass man damals immer bei Tageslicht drehte; wenn aber etwas bei Nacht handeln sollte, wurde die Szene später blau eingefärbt. Bei der einzigen erhaltenen Fassung des Films war das nie geschehen. Aber sie haben es jetzt nachgeholt, die alten Filmrollen aus Russland und Frankreich zusammengetragen, die Szenen, die hier fehlten, von dort kopiert und eingesetzt, die Zwischentitel ergänzt und die Viragierung so gewählt, wie es damals üblich war: Gelb für Sonnenlicht. Rot für besonders dramatische Szenen, Grün für Natur. Indigo für Nacht.

Ein bisschen Blau, und aus einer Straße im hellen Sonnenlicht wird eine spärlich mondbeschienene Gasse; und gehst du hindurch, wird es dir vielleicht nie wieder hell.

 

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So lautete die letzte Zeile, die Herr V. sang, bevor der Saal erlosch: Death is a trick of the light.