L. siceraria

Früher waren wir viele, und ganz am Anfang alle nur sie selbst.
Dann zerbrachen die ersten und dann die nächsten. Wir wurden vermischt und verschmolzen und wieder und wieder zerbrochen.
Jetzt sind wir eins, wir halten uns nicht mehr auseinander, zu viele in einem, um eins zu sein, aber viel zu viele auf einmal, um mehr als eins zu sein; und wir gehen verloren, ins Feuer, in Erde, in Flüsse, die nirgendwohin führen.

Manchmal werden wir irgendwann Sand an den Küsten.
 

:-:-:

 

Ich fand ihn eines Tages während der Mittagspause, auf einem Weg im Park, wo es zwischen die dichteren Bäume geht und immer ein bisschen düster ist. Er lag am Wegrand, halb im Gras, und rührte sich nicht. Ich erschrak, als ich ihn da liegen sah, und dann war ich widerwillig und hatte Angst, was ich sehe würde, wenn ich näherkam, aber es war weit und breit niemand anderes unterwegs, also musste ich ja nachsehen, was mit ihm los war. Ich trat zu ihm und wollte in die Hocke gehen, um ihn anzusprechen, hörte unter meinen Schuhen etwas knirschen und brechen und sah, dass ich in den Scherben einer zerschlagenen Flasche stand, und dachte mir so halb, na super, alles klar – „nicht!“ sagte er und fuhr hoch, und ich trat einen Schritt zurück und wollte gehen, weil er offenbar nur besoffen war, aber noch bei sich und keine Hilfe brauchte, und dumm anreden konnte ich mich selber.
Aber ich blieb doch noch mal stehen und sah mich um. Er hatte so erschrocken geklungen.
Er war offenbar in den Scherben gelegen, blutete an der einen dreckigen Wange, und nun saß er da auf dem Weg, offenbar war ihm schwindlig, und sammelte das Glas ein, erst die großen Scherben, dann die kleinen, dann versuchte er, die Splitter mit den Fingern zusammenzukehren.

Ich stand da und wusste nicht, was tun. Ich räusperte mich. Hm. „Kann ich helfen?“, und hoffte so irgendwie, er würde nein sagen.

Er sagte aber „ja … hast du was, wo ich die Scherben reintun kann?“, ohne mich anzusehen, er suchte ja den Boden ab, um keinen Splitter zu übersehen. Na­ gut, ich kenne das. Jedenfalls von früher. Da fällt einem die Tasse runter, die die schönste Frau von allen mal im Lieblingscafé für einen geklaut hatte, weil man sich selber nicht traute, und man heult wie ein kleines Kind wegen dieser dummen Tasse und sammelt alle Scherben ein und hebt sie irgendwo auf, und beim nächsten Umzug wirft man sie dann doch weg, aber wenn man daran denkt, zieht es immer noch im Hals. Später wird man dann pragmatisch. Aber er hier wollte eben seine Scherben aufsammeln, obwohl er bestimmt nicht jünger war als ich, und ich hatte die Papiertüte noch in der Hand, in die mein Pausebrot gewickelt gewesen war, das ich vorhin aufgegessen hatte. Ich hockte mich neben ihn und hielt sie für ihn auf. Es dauerte endlos, bis er alle Scherben hineingesammelt hatte. Ich glaube, er hatte am Ende wirklich die ganze Flasche beisammen. Und einen Haufen Dreck dazu. Und als er sicher war, dass sich nicht noch irgendwo irgendein winziger Splitter neben dem Weg im Gras verbarg – meine Pause war längst zu Ende und ich wurde langsam doch ein klein wenig ungeduldig –, frage er mich: „Kannst du mal nachschaun, ob du noch Splitter an den Schuhsohlen hast? Du bist vorhin auf die Scherben gestiegen …“, und es klang beinah vorwurfsvoll. Aber na gut. Ich zog den linken Schuh aus und inspizierte die Sohle, auf einem Bein balancierend – immerhin war ich mir sicher, verlöre ich das Gleichgewicht und müsste mit dem Socken auf den Weg treten, ich würde jedenfalls in keine noch so flüchtig kleine Scherbe treten –: kein Glas zu sehen. Rechter Schuh – tatsächlich. Ein kleines blaues Funkeln in den Rillen des Profils. Natürlich im schmierigsten Dreck, von dem ich lieber nicht wissen wollte, was genau das war. Ich hüpfte auf einem Bein zum nächsten Strauch, sagte „Entschuldigung“ und brach einen kleinen Zweig ab. Dann hüpfte ich zurück zum Weg und popelte mit dem Zweig den Dreckbatzen mit der Scherbe darin in die Papiertüte, die der irgendwie doch noch ziemlich junge Mann geradezu angestrengt offenhielt. Er hatte übrigens rote Haare, das fiel mir jetzt auf; ein seltsames Rostrot, das man erst für Braun halten konnte, aber wenn die Sonne darauffiel, war es doch eindeutig tiefdunkelrot; und seine Augen waren von einem unwahrscheinlichen Dunkelblau. Er war überhaupt sehr schön. So aus der Nähe. Auch wenn es für ihn nur diese Tüte zu geben schien und sonst nichts und von mir höchstens meine Schuhsohle, jedenfalls so lange, bis die kostbare Scherbe daraus entfernt war. Dann vermutlich gar nichts mehr.

Wir gingen dann unsrer Wege, jedenfalls ging ich in die Arbeit zurück und ich dachte, er wäre nach Hause gegangen. Am nächsten Tag regnete es in Strömen. Am übernächsten Tag war es bewölkt und windig und nieselte ab und zu, aber nicht sehr, und ich nahm wieder meine Brotzeittüte mit, um die Pause im Park zu verbringen, das Büro und die Leute darin sehe ich ja länger als lang genug jeden Tag.
Sie saß da auf einer Bank, nicht weit von der Stelle, wo ich sie gefunden hatte, und hatte noch immer die Papiertüte in der Hand. Sie war das einzige an ihm, was soweit trocken erschien; alles andere, seine Kleidung, seine Schuhe, seine schwarzen Haare, alles war durchnässt, nicht triefend nass, aber durch und durch feucht, wie draußen aufgehängte Wäsche feucht ist, die schon mal trocken gewesen war und die dann niemand hereingeholt hatte, als es zu regnen anfing, und die am nächsten Tag immer noch draußen hängt in einem nasskalten Wetter und Stockflecken bekommt, wenn man nicht schnell etwas unternimmt und sie noch einmal bei sechzig Grad in die Maschine steckt.
Ich war versucht, schnell noch in den kleinen Weg rechts einzubiegen und so zu tun, als hätte ich sie nicht gesehen, aber ich ging doch hin und blieb stehen. Sie sah mich flüchtig an und dann wieder weg, und ich trat ein wenig von einem Fuß auf den anderen, dann sah sie mich wieder an und wieder weg, und ich räusperte mich und sagte, „hm. Kann ich dir noch irgendwie helfen, ich meine …?“, und sie sah noch mal kurz auf, aber eher an mir vorbei, und sagte, „– nein, ich glaube nicht. Oder – bist du vielleicht Glasbläser? oder – kennst einen?“ Ich fragte mich, ob das gerade eine besonders blöde Anmache gewesen sein sollte, aber ich sagte einfach „nein“ und sah ihn weiter zögernd an. Er sah aber nur zur Seite und sagte noch, „nein, dann – danke“, und hielt weiter seine Tüte fest. „Ja dann“ sagte ich, und ging vorsichtig weiter, erst einen Schritt und dann zwei, aber als er nicht reagierte, ging ich ganz weg, erst langsam, dann schneller.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Sehr sogar, es war wirklich heiß. Ich nahm wieder meine Brottüte und meine Trinkflasche und ging in den Park, diesmal mit einem Buch, ich wollte ein bisschen lesen. Die Bank, auf der er gestern gesessen hatte, war leer. Irgendwie war ich froh, es zu sehen. Ich setzte mich hin, stellte Tüte und Flasche neben mir ab und schlug das Buch auf. Ich weiß nicht, ob es so spannend war, dass ich nichts bemerkte, oder ob ich so müde war, dass ich kurz im Sitzen eingeschlafen war, jedenfalls saß er plötzlich neben mir. Er sah blass aus heute, ein bisschen ausgebleicht von der Sonne, und ein bisschen fleckig in den fahlen Haaren. Seine Tüte hielt er immer noch mit beiden Händen fest. Er sagte gar nichts, er sah nur meine Wasserfasche irgendwie verlangend an, und ich fragte ihn, „magst du nen Schluck?“, vielleicht hatte er ja Durst. Aber er schüttelte nur den Kopf und sah wieder zu Boden. Aber was genug ist, ist genug. Ich klappte mein Buch zu, zog mein Telefon aus der Tasche und rief meinen Chef an, um ihm zu sagen, es ginge mir nicht gut, mir sei schon den ganzen Vormittag übel gewesen und beim Mittagessen jetzt, naja, jedenfalls, ich müsse nach Hause gehen, ja, bis morgen sei es bestimmt wieder besser. Dann stand ich auf und sagte: „Ich gehe jetzt heim. Wenn du nen Platz zum Bleiben brauchst und was zu essen und trockene Kleidung, kannst du mitkommen. Ja?“ – „Ja“, sagte er und kam mit.

Er wohnte dann eine Zeit lang bei mir. In dieser Zeit lernte ich sämtliche Glasatteliers, Küchenläden und Einrichtungshäuser der Stadt kennen. Wir fragten überall – das heißt, ich fragte überall, aber niemand sah sich imstande oder kannte jemanden, der aus den Scherben einer einzigen Flasche wieder genau eine Flasche herstellen hätte können, ohne dass etwas verlorenginge dabei. Wenn ich abends heimkam, saß er meistens auf einem Stuhl am Esstisch und sah zum Fenster hinaus mit ihren grünen Augen, und immer hielt sie den Beutel mit den Resten seiner Flache fest. Wir hatten sie in einen Stoffbeutel umgefüllt, weil die Scherben das Papier bald zerschnitten hatten.
Essen wollte er nie etwas. Aber wenn ich ihm jetzt was zu trinken anbot, sagte er nie mehr nein oder lehnte höflich ab, es reichte, wenn irgendwo etwas herumstand, er trank alles schneller auf, als man es hinstellen konnte. Wasser, Saft, Wodka, Eistee, wieder Wasser – es war ganz egal, Hauptsache, es war flüssig; er trank und trank, aber schaffte es nie, genug zu trinken. Ich glaube, er fühlte sich immer ausgelaufen. Wenn ich nicht da war, saß er oft in der Badewanne, das schien vorübergehend zu helfen, aber wenn ich dann heimkam, sah sie ganz verkehrtherum aus, umgestülpt und durchscheinend, und war wirklich schlecht gelaunt. Dann waren ihre Augen braun und grau und ein unheimliches Dunkelgelb und manche sogar fast rostrot.

Inzwischen war es Mai, und ich setzte eine Kürbispflanze mitten in den komischen Flecken Erde, der mir als „eigener Garten“ mitvermietet worden war, in den aber von allen Balkonen außenherum lauter Zigarettenenden fielen und alles, was man da oben zusammenkehrte und dann über die Brüstung warf, damit der Balkon auch immer schön sauber war, und manchmal die Reste von Grillparties. Ich rechnete damit, dass es den Kürbis nicht stören würde, und das stimmte auch. Er wuchs und wuchs. Er wucherte über meine sogenannte Terrasse, die eigentlich nur ein paar Planken vor der Gartentür war, und dann hangelte er sich an der Wand hoch, und die Nachbarn mit den Balkonen im ersten Stock beschwerten sich und warfen mit Zigarettenkippen, aber die fraß der Kürbis wie die da oben Chips und Koteletts bei ihren blöden Feiern, und bei mir fielen dann immer die Knochen vor die Gartentür. Im Juli fing er an zu blühen.

Sie saß jetzt meistens in der Badewanne und sah unglücklich aus. „Vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest mich nicht gesehen“, sagte sie eines Tages; „wenn wir einfach so liegenbleiben, dann hören wir wohl irgendwann einfach auf. Aber ich weiß es auch nicht. Vielleicht ist es auch besser so. Danke jedenfalls.“ Es war sehr ungewöhnlich, dass sie „danke“ sagte. Meistens hatte sie ja schlechte Laune oder war so unglücklich, dass sie gar nicht sprach. Dann hatte ich auch das Gefühl, ich hätte es gar nicht erst versuchen sollen, und dass es eingebildet von mir gewesen war und dass ich alles schlimmer gemacht hatte. Ich erzählte niemandem davon, und als der Vermieter nach all der Zeit endlich mal jemanden schicken wollte, um den tropfenden Abfluss zu repairieren, behauptete ich, ich hätte das inzwischen selbst erledigt; sonst musste ich niemanden abwimmeln.
Wenn ich duschen wollte, kochte ich vorher sehr viel Tee, der schien länger vorzuhalten als nur Wasser, und stellte ihn ins Wohnzimmer neben die große Blumenvase am Fenster. In der saß er dann währenddessen; manchmal saß er jetzt auch sonst dort, weil er dann immerhin Aussicht auf den Kürbis hatte; in meinem Bad gibt es ja kein Fenster, und das ist natürlich bedrückend, wenn man den halben Tag in der Badewanne sitzt und es gewöhnt ist, nur Glas um sich zu haben.

Der Kürbis hatte inzwischen Früchte angesetzt. Sie wuchsen gut. Ich hoffte, der Sommer würde lang werden und der Herbst warm genug und sie würden richtig ausreifen, das war wichtig. Sonst hätte ich es erst nächstes Jahr wieder versuchen können, und ich kam jetzt schon oft gar nicht mehr so gerne heim. Und sie wurde auch immer dünner und dabei trotzdem irgendwie größer, und es ging ihr überhaupt nicht gut.

Aber wenn es ihnen gerade ein bisschen besser ging, dann konnten sie erzählen. Einmal war ich tagsüber in den Bergen gewesen, das ließ sich nicht vermeiden, es war ein Betriebsausflug, jedenfalls hatte ich in meiner leeren Trinkflasche frisches Wasser aus einem Bach mitgebracht, das füllte ich in seine Vase und machte uns sehr viel rosa Grapefruitlimonade mit ein bisschen Rosenwasser darin, weil ich so froh war, dass der Ausflug wieder für ein Jahr überstanden war. An dem Abend erzählte er mir, wie sie einmal der Tochter des Sultans drei Wünsche erfüllt hatten. Der letzte davon war der schwierigste gewesen, denn dabei mussten sie sich mit dem Tod persönlich anlegen, und das machen sie nicht gerne, auch wenn sie da offenbar für gewöhnlich ziemlich gute Beziehungen haben. Aber am Schluss wurden sie sich einig, alle drei. Nur der Wesir fands nicht so lustig und wollte unbedingt sein Pferd und das Butterfass zurück, aber das hatte er eben davon. Und einmal, als ich nach einem schlimmen Tag in der Arbeit heimgekommen war und Bier dabeihatte, zwei Flaschen für mich, den Rest trank sie, da erzählte sie mir, wie sie ganz in der Nähe einen Räuber umgebracht hatten, als hier noch überall Wald war und ein wichtiger Handelsweg, auf dem Salz von den Bergwerken ins flache Land gebracht wurde, und es dort in manchen Gegenden schon knapp wurde wegen der ständigen Überfälle, und Salzmangel ist kein Spaß, das Vieh ging ein und die Menschen wurden krank; da ließen sich hundertsechsundzwanzig von ihr mit ihrem Teil der Flasche von diesem besonders schlimmen Räuber verschlucken, damit wenigstens die nächste Lieferung durchkommen konnte.
Jedenfalls hat sie mir das so erzählt.
Schon damals war sie sehr, sehr viele.

Mein Chef trinkt aber nur aus Plastikflaschen und Pappkaffeebechern.

„Oh“, sagte sie, „täusch dich nicht. So eine Plastikflasche sieht sehr profan aus, das stimmt schon, aber auch da wohnen welche. Sie sind ein bisschen anders als wir, viel bunter, und sie leuchten im Dunkeln und sie wirken so formbar, aber anlegen würde ich mich mit ihnen erst recht nicht. Sie sind geduldiger, sie sind sogar viel geduldiger als wir. Nachtragend, könnte man auch sagen. Sie sind ungeheuer nachtragend.“

Die Kürbisse waren jetzt schon reif. Ich ließ sie hängen, solange es ging. Die Nachbarn hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Nur auf dem obersten Balkon stieg abends manchmal ein bisschen blauer Rauch zwischen den vielen Blättern auf, wenn da gerade noch die Sonne hinschien und es bei mir unten schon dunkel war. Das war schon immer so gewesen abends, oben viel Grün im letzten Licht und ein bisschen Rauch und manchmal Musik, sehr friedlich. Jetzt war hier unten auch viel Grün und meine Kürbisse leuchteten ein bisschen golden. Ich mochte den, der da oben wohnte, irgendwie. Wir winkten uns manchmal zu, und er hatte keinen Grill und keine Freunde, die abgenagte Kotelettknochen zu mir runterwarfen.

Dann wurde es kalt. Die Kürbispflanze wurde welk. Ich suchte die beiden schönsten Früchte aus, eine davon auf Reserve, falls mit der allerschönsten etwas nicht klappen sollte. Sie hatten schlanke Bäuche und elegante Hälse mit einer perfekten, geraden Achse, das war wichtig. Ich holte den altertümlichen Bohrer aus dem Keller, den mein Vater mit mitgegeben hatte, als ich in meine erste eigene Wohnung zog; die Bohreinsätze hatte er damals ordentlich am Griff angebunden, und da hingen sie immer noch, sonst hätte ich sie nicht mehr gefunden. Ich klemmte den ersten Kürbis zwischen ein paar Ziegelsteine, etwas andere hatte ich nicht da, und setzte vorsichtig an. Es ging viel leichter, als ich dachte. Es wurden zwei perfekte, kreisrunde Löcher, in jedem Kürbis eins. Ich holte einen Teelöffel und schippte ein bisschen Gartenerde in sie hinein und zerstieß dann mit einem dünnen Stock das Fruchtfleisch im Inneren, so weit es ging, ich hatte nachgesehen und gelesen, dass man das so mache; dann legte ich sie in den alten blaulackierten Blecheimer, beschwerte sie mit ein paar Steinen und bedeckte sie mit Wasser. Dann mussten wir wieder warten.
Es war gut, dass es endlich so weit gewesen war, ich hatte den Eimer nur noch sehr schwer freihalten können. Mein Findling hatte sich verteilt, in fast alles, was irgendwie als Gefäß dienen und Wasser halten konnte. Ein paar von ihm saßen jetzt meistens in der Spüle, das war sehr unpraktisch, weil man beim Abwaschen so aufpassen musste, dass niemand durch den Abfluss verschwand. Dann passierte mir das doch. Ich dachte, ich hätte sie alle herausgefischt und in den großen Kochtopf gesetzt, aber irgendwo zwischen den Tellern hatte sich einer von ihnen versteckt gehabt, oder war eingeschlafen gewesen, und durch den Schaum auf dem Spülwasser bemerkte ich es nicht, bis ich das Wasser abließ und es plötzlich wirbelte und um sich schlug mit den vielen kleinen Armen oder Beinen oder was es war. Ich versuchte noch, es aufzufangen, aber es rutschte mir durch die Finger wie rohes Eiweiß, ich sah noch zwei Hände und eine winzige Tentakel sich kurz von unten an diesem Lochgitter im Ausguss festklammern, und dann war es weg. Ich stand da und starrte in die Spüle und mir war schlecht.
Ich wusste nicht, wie ich ihm das sagen sollte, also sagte ich gar nichts mehr zu ihm, für ein paar Tage, und versuchte immer ganz leise zu gehen und unbemerkt zu bleiben. Oft saß ich stundenlang in meinem Zimmer auf dem Schreibtischstuhl fest, obwohl ich aufstehen und etwas tun oder woanders hingehen hätte müssen, aber ich traute mich nicht, weil sie mich dann hören würden und daran denken, dass es mich gab, und ich hoffte, sie würden gerade nicht daran denken und hätten mich vergessen. Aber an den Abenden saßen wir am Tisch und sie reichte bis zur Zimmerdecke und sprach nicht mit mir und hatte ein Loch im Kopf, bis durch den Knochen, ich sah von unten ihre Zähne, und sie hatte Schmerzen und war böse und ich wusste nicht, wo ich hinsehen sollte oder wie man bei so etwas Entschuldigung sagen kann.
Also sagte ich gar nichts. Und sie auch nicht. Ich hörte auf zu spülen; es war auch sowieso alles Geschirr und alle Töpfe und Tassen und Gläser in der Küche verteilt und mit Wasser gefüllt, und in manchen war es ganz still und nur etwas wie eine Koralle am Tassenboden, in anderen brodelte es wie von vielen bösen Würmern. Nur abends kam sie noch zusammen. Nach ein paar Tagen schien sie nicht mehr so wütend zu sei, sie sagte auch etwas davon, dass so etwas ja oft passiere, aber das Loch ging nicht weg; sie war auch sonst nicht ganz ganz, ich hatte es an diesem ersten Tag im Park irgendwie übersehen, aber jetzt sah ich es. Der mittlere Teil des Fingers an einer linken Hand fehlte, die Fingerspitze hing in der Luft und kam nicht schnell genug hinterher, wenn die Hand sich bewegte, sie folgte ihr wie ein kleines bleiches Echo. Und durch das Loch im rechten Oberarm sah mich manchmal das Auge auf dem zweituntersten Rücken an. Das grüne. Die gelben schliefen meistens. Darüber war ich froh.

Es wurde noch einmal warm und das Licht ganz golden. Die Kürbisse in ihrem Eimer fingen an, fürchterlich zu stinken. Ich hatte gelesen, dass das so sein müsse. Einmal meinte ich, von einem der Balkone herab jemanden schimpfen zu hören, aber als ich hochsah, huschte nur ein magerer Schatten in das Gewirr von toten vertrockneten Kürbisranken zurück, das die ganze Fassade und alle Balkone bedeckte bis knapp unter das oberste Stockwerk, wie ein filigranes Gitter an einem besonders liebevoll gebauten Gefängnis.

Zum Abendessen gab es jetzt meistens Pizza für mich und sehr viel Bier für sie und eins für mich.

Nach zwei Wochen nahm der Gestank etwas ab, oder er setzte sich wie jemand, der nach einem Wutanfall immer noch aufgebracht, aber jetzt obendrein frustriert auf den nächsten Stuhl fällt. Er sprang mir auch sofort wieder ins Gesicht, als ich die beiden Kürbisse aus der vergorenen Brühe holte, und quoll an den Wänden empor und aus dem Hinterhof hinaus und überrannte dann die ganze Straße. Ich musste mich beeilen, es war zwar Nacht, aber früher oder später würde sich trotzdem jemand beschweren kommen. Ich nahm den Gartenschlauch und einen dicken Draht, den ich mir zurechtgebogen hatte, und spülte und schabte das stinkende Etwas von vergammeltem Fruchtfleisch aus den beiden Kürbissen, bis ich da drinnen nichts mehr spürte außer der harten Wand.
Die äußere Haut ging ganz leicht ab.
Dann trug ich den Eimer durchs Hoftor auf die Straße und schüttete den Inhalt den nächsten Gulli hinunter. Den Eimer und meine nasse stinkende Kleidung warf ich in die Mülltonne vorm Nachbarhaus und lief zurück, so schnell ich es konnte, ohne wirklich zu rennen. Als ich mit immer noch halb angehaltenem Atem und kalten nackten Füßen die Tür zu meiner Wohnung hinter mir zuzog, sah ich durchs Küchenfenster Blaulicht in der Straße. Keine Sirenen, es war ja Nacht.

Der Findling hatte das Bad schon für mich geräumt, von selbst und schweigend, ich konnte gleich duschen. Die Kürbisse spülte ich dann noch mal heiß aus und dann noch sehr oft kalt und dann hängte ich sie mit den Öffnungen nach unten ins Wohnzimmer. Im Hinterhof spritzte ich alles mit dem Gartenschlauch ab. Als ich fertig war, sah ich zum Balkon ganz oben hinauf. Ich glaube, er hatte die ganze Zeit da gestanden, und jetzt winkte er mir ein bisschen zu und ging dann hinein.
Ich ging auch schlafen.
Am nächsten Morgen musste ich in die Arbeit. Meine Hände stanken immer noch. Im Hinterhof liefen kleine Flüsse aus Eis unter den erfrorenen Kräutern vom letzten Sommer entlang. Hätte die Sonne darauf geschienen, hätte es sicher schön ausgeschaut.

Am Abend suchte ich den Beutel mit den Glasscherben. Ich holte alle heraus, die größer als ein Daumennagel waren, und machte mich an die Arbeit. Es war mühsam, die Kürbisschale war jetzt schon ziemlich hart, ich arbeitete mit dem Bohrer und einem alten Küchenmesser, das Harz war erst zu klebrig und härtete dann zu schnell aus, und es waren sehr viele Scherben, aber am Ende hatte ich sie alle gut und dicht eingesetzt, und ich hatte sogar so etwas wie ein Muster hinbekommen, es sah ein bisschen aus, als hätte man aus Kürbis und Glas grobe Spitze geklöppelt, oder wie ein mittelalterliches Kirchenfenster. Ich war ein bisschen stolz. Er sagte nichts, aber ich glaube, er hat gelächelt, so weit man das erkennen konnte, ihre Gesichter hatten sich da schon über die Brust verteilt.

Dann warteten wir wieder. Mehr Pizza, und manchmal Chinesisch, und mehr Bier und Wasser und wieder Bier.
Wir sprachen nicht mehr viel. Es war auch zu mühsam für sie.

Dann war die Kürbisflasche ganz trocken.

Wir saßen abends am Tisch und sahen sie an. Sie funkelte im Lampenlicht. Draußen schneeregnete es, und wir hatten zwei Kästen Wasser, den größten Kochtopf voller Glühwein, in dem ziemlich viele ihre Runden drehten, und drei Liter Tee in zwei Thermoskannen und einem alten Krug. „Was machen wir jetzt?“, fragte ich. „Soll ich etwas hineinfüllen? Und dann, willst du hier bleiben?“ Sie zögerten. Dann wurde es im Kochtopf leer und alles kam an den Tisch, sie zogen sich ganz zusammen, er sah fast so aus wie am ersten Tag im Park. Es lief zwar noch einmal so ein Zittern durch ihn, das ihn in Einzelteile zerspringen ließ wie in einem Kaleidoskop, aber dann drehte es sich weiter und er saß wieder ganz da und sagte: „Nein, füll nichts hinein. Nur die kleinen Scherben aus dem Beutel noch. Es ist gut jetzt. Meinst du, du kannst mich ins Meer bringen? Da waren ein paar von uns schon. Wir hatten Schatzkarten dabei und Hilferufe, und Briefe von Verschollenen, die nur noch jemandem sagen wollten, dass er ihre Kuh jetzt verkaufen könne oder dass sie jemanden gern hatten oder so etwas. Meinst du, du kannst uns einen Brief mitgeben? Dann sind wir nicht leer. Wörter gehen auch, alles was fließt, ist gut. Und weißt du –“
Aber er zerbrach wieder, und dann kamen sie nicht mehr zusammen.

Ich füllte die kleinen Scherben aus dem Beutel in die Kalebasse. Sehr, sehr vorsichtig. Jeden kleinen Splitter. Ich schnitt mich dabei, es geriet etwas Blut mit hinein, aber ich glaube, das machte nichts. Dann war es leer im Zimmer und in den Töpfen und in der Küche und im Bad. Ich sah noch einmal überall nach. Und dann noch mal und noch mal, noch viel öfter, als ich nachsehe, ob die Herdplatte auch wirklich ausgeschaltet ist, bevor ich wegfahre.

Die ganze Fahrt nach Norden über dachte ich darüber nach, was ich in dem Brief schreiben sollte und an wen. Ich hatte niemandem, dem ich sagen konnte, was er mit meiner Kuh machen sollte oder mit meiner vertrockneten Kürbispflanze im Hinterhof. Ich wusste auch von keinem Schatz. Und der einzige, dem ich hätte schreiben können, dass ich ihn mochte, wohnte im Nachbarhaus ganz oben, und das hätte geheißen, den Findling gleich wieder dorthin zurückzuschicken, wo er gerade erst herkam. Erst auf der Fähre, in der Cafeteria, setzte ich mich hin und holte den Block Büttenpapier heraus, den ich extra gekauft hatte, und den Füller, den ich seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt hatte, und ich schrieb:

was dann lesen wird, wer die Flasche findet.
Wahrscheinlicher ist wohl, dass sie in irgendeine Schiffsschraube gerät und meine Worte mit ihr.

In meiner Kajüte rollte ich den Brief eng zusammen und schob ihn in die Kalebasse. Ich korkte sie sorgfältig zu und verschloss sie gründlich mit Siegelwachs. Dann ging ich an Deck und stand da, es war ziemlich kalt und sehr windig, in der Hand die einzigen, die wirklich dagewesen waren. Ich sah auf das viele graue Wasser hinaus. Bis zum Horizont Wellen. Unter dem Schiff sehr tief. Genug Wasser.
Dann holte ich aus und warf die Flasche weit über die Reling.

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