Ein guter Rat zu Erdbeereis und Steinen

Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, weil ich so viel älter bin als du und schon so viel länger hier – und wie jeder gute Rat ist auch dieser ebenso gut wie unbefolgbar, denn niemand kann sich aussuchen, was er liebt, aber wenn du es dir aussuchen könntest –
stell dir vor, du sitzt im Zug und du bist entweder der Mann mit dem Klapprechner, der die ganze Zeit telefoniert und mit seinen Geschäftspartnern bestimmt und vernünftig spricht und mit seinen Mitarbeitern bestimmt, aber dann auch ein wenig scherzhaft, nachdem das erledigt ist, und mit seiner Frau liebevoll, aber bestimmt, und der ganz offenbar seine Arbeit liebt und alles, was er erreicht hat, und sich selbst –
oder du bist jemand, dessen Leben erheblich zu wünschen übrig lässt, für ihn selber, und von seinen Eltern und seinen Freunden und Bekannten wollen wir gar nicht erst reden, dabei wissen sie nicht einmal die Hälfte von dem, was zu wünschen übrig wäre und wünschen es ihm deswegen auch nicht, was immerhin etwas ist, was er richtig gemacht hat – aber gerade sieht er aus dem Fenster und seine Gedanken über alles, was fehlt, gehen da draußen verloren, weil ein kleiner Fluss mit Felsen darin und kleinen Wasserfällen neben dem Zug herläuft und an seinem Ufer Bäume wachsen, deren noch ganz neues und hellgrünes Laub das Licht verwirbelt, das auf der Oberfläche tanzt, Grün in Grün und Funken auf dem Wasser – darin geht er verloren, und alles, was er leider ist und was er leider nicht ist auch, weil er genau das liebt: Wasser, Felsen, Bäume, das Licht dazwischen. Und kurz ist er selbst ein wenig der Fluss und die Bäume.
Was ist dir lieber? Erinnerst du dich an die Bücher früher, in denen man zwischen lauter schlechten Möglichkeiten wählen sollte, zwischen barfuß einen Weg voller Brennnesseln oder einen voller Nacktschnecken entlanglaufen oder zwischen drei oder vier gleich anstrengenden und unwahrscheinlichen Arten, übermächtigen Gefahren zu entgehen, und am Ende war man tot oder hatte überlebt oder bekam nach all dem Wählen zwischen Ärgerlichem und Schmerzhaftem und Ekligem ein Erdbeereis, aber nur auf dem Papier; gab es diese Bücher noch, als du klein warst? Das hier ist sogar noch einfacher, denn am Ende, sagen sie, stirbt ja jeder, aber das Erdbeereis gibt es davor sogar in echt, jedenfalls sobald der Zug angekommen ist, und wenn man kein Erdbeereis mag, kann man Schokolade oder Kokos nehmen. Aber was ist dir lieber? Du ahnst es schon, denn das hier sieht ganz so aus, als sei es eine Geschichte mit einer Moral. Aber es hat mit Moral nichts zu tun. Es ist eine einfache Rechnung, bei der am Ende eins oder null herauskommt. Sei – das war ja klar – der mit den Bäumen. Liebe Wasser, Steine, und Sonnenlicht auf den Wellen, denn die sind immer da. Sie werden auch noch da sein, wenn du aufhörst, da zu sein, weil dein Leben von dir wegrutscht, in dem du alles hast und alles bist, was du liebst, oder in dem du vielleicht nichts hast und nichts geworden bist und ganz bestimmt nicht das, was du gern gewesen wärst; aber so oder so – es rutscht von dir weg wie die eigene Geldbörse, die ein kindischer Gott dir entwendet und auf deinem Nachhauseweg auf den Gehsteig gelegt hat, wo du vorbeikommen musst, und, kaum willst du sie nach all der Sucherei aufheben und einstecken, sie dir an einem Bindfaden aus den Händen zieht. Und dann ist da nichts. Null.
Nur ein leises Gekicher wie aus einem offenen Fenster im Hochparterre.
Aber Wasser und Steine sind immer da, und du kannst dich noch über sie freuen, wenn du von ihnen weggezogen wirst an der Schnur, die dich der Welt aus den Händen zieht, denn sie bleiben ja. Du siehst sie aus dem Zugfenster und gleitest schon weg und wirst immer kleiner, aber weil du sie liebst, kannst du stattdessen sie sein und bei ihnen bleiben, bis der Zug um den nächsten Hügel verschwunden ist.
Dann stehst du von deinem Felsen am Ufer auf, klopfst dir den Staub aus den Hosen und rückst deinen Hut zurecht – – – nunja, ich scherze, selbstverständlich. – Oder Bäume, die gibt es auch noch. Es gibt sie doch noch? Sie sind nicht so leicht wegzuziehen aus der Welt wie du. Die Leute bekommen Kinder, um sich selbst zu überleben, sie haben so etwas wie ein Lebenswerk oder meinen, wenn sie den Lauf der Geschichte ändern oder wenigstens den der Kunst, dann bliebe etwas von ihnen. Die Steine lachen sich darüber jeden Morgen halbtot. Die einzige Art zu bleiben ist, nie ganz gewesen zu sein, weil du etwas anderes liebst, etwas, was du nicht bist und nie sein wirst, so sehr, dass du es doch ein bisschen wirst. Sei nicht ganz du. Sei nicht immer nur du selbst. Sei ein bisschen etwas anderes, und bleibe. Eins.

Aber ich bin nur ein alter Mann in einem etwas staubigen dunkelgrauen Anzug und mit zu viel Zeit, und hier rede ich und rede ich, ohne mich auch nur vorgestellt zu haben. Entschuldigung – mein Name ist Augustin Barbosa, und ich lüfte den Hut und sage: Einen schönen Tag noch – bei dem herrlichen Wetter! An der nächsten Station soll es übrigens eine gute Eisdiele geben, falls du dort aussteigst.