The Leeds side-streets that you slip down

September 2019

:– Verlaufen –:

Zwei Dinge fand ich in Leeds unmöglich: Mich zu verirren, und nicht vom Weg abzukommen. Am ersten Abend im Dunkeln fiel ich irgendwie über den Platz vorm Bahnhof und landete in genau der Straße, die von allen am unzweifelhaftesten zur Unterkunft führte. Den Weg zum Konzert in einem anderen Stadtteil hatte ich mir vorher auf ein Blatt Papier gezeichnet, einmal falsch abgebogen, und ich wäre auf die Freundlichkeit spärlich herumlaufender Einheimischer angewiesen gewesen, aber jede benötigte Straße war genau da, wo ich langging. Andererseits: Wenn ich nur schnell Essen einkaufen gehen wollte, landete ich meistens am Kanal, an dem man dringend ein Stück weit entlanggehen musste, und erst nach einer Runde durch die ganze Stadt wieder im allernächsten Laden. Immer steht irgendwo ein Ziegelhaus mit Fenstern, die in der Dämmerung leuchten, ein altes Fabrikgebäude, oder es geht jemand in einem stilvollen Ensemble von Second-Hand-Kleidungsstücken vorbei, nach dem man sich umdrehen muss, man muss unter geziegelten Bahnübergängen und eisernen Brücken durchlaufen und durch sämtliche Arkaden der Innenstadt und vor jedem Schaufenster jedes Herrenausstatters stehenbleiben. In der Markthalle gibt es alles, Fleisch und Wolle, Adapter, Okras, Stoffe, Käse, Fisch, Hüte und Stöcke, Saris, Kerzen, Puppen und Tee, das muss alles betrachtet werden, und wenn man findet, da, wo man gerade langläuft, theoretisch immer noch auf der Suche nach einem Lebensmittelladen, sieht es aus wie auf Fotos von Brooklyn, liest man auf dem nächsten Straßenschild „New York Street“. Erst suche ich die Granary Wharf und dann die Granary Wharf, wie sie, hörte ich, vor Jahren aussah, ein Koch steht in seiner Pause auf dem schmalen Steg überm Kanal und raucht. Es riecht fast immerzu nach Essen, nach Falafel und indischem Take-away. Im Barbershop sitzen noch die gleichen elegant-krassen Typen wie auf einem Foto von vor einigen Jahren. Das Queens-Hotel ist so groß, dass es, wenn man auf dem kleinen Platz gegenüber steht, das gesamte Gesichtsfeld ausfüllt mir seiner weißen, makellosen, stattlichen und quasi staatlichen Fassade; aber ganz rechts laufen irgendwelche Rohre und Abgänge gen Boden, hinter und unter ihnen korrodiert es schwarz die Verkleidung herab. Zu irgendeinem Zeitpunkt wäre es vermutlich ein gutes Bild für den Zustand des Empire gewesen. Ein Straßenmusikant spielt ohne Aufhebens alte Lieder auf der Gitarre, und ein Mann, der vor mir geht, fällt im Vorbeigehen mit ein: Strawberry fields forever. Ich wollte nur ein Runde im Norden der Innenstadt gehen und verbrachte den halben Tag in der Skulpturensammlung.
Am letzten Tag habe ich es geschafft, genau wie geplant erst in den Buchladen und dann ins Tiled Hall Café zu gehen und mit einem Kaffee am Fenster zu sitzen, draußen Bäume im Wind und drinnen lauter andere Kaffeehaushocker. Die eineinhalb Stadtloops auf der Suche nach Fisch kamen erst danach.

:– The B-word –:

Es war eine politisch einigermaßen aufgeregte Phase. Das Ende war noch nicht abzusehen, es schien auch noch anders kommen zu können, als es gekommen ist, aber die Lage wirkte schon vom Kontinent aus extrem chaotisch, zerworfen und ungewiss. Rechnete ich damit, dass hinter mir ein eiserner Vorhang runterrauschen und ich auf der Insel festsitzen würde (okay, verqueres Wunschdenken), dass man mich bei vorgezogenem Bruch der Union und frisch verbarrikadiertem Europatunnel in den Ärmelkanal werfen würde, dass man mich schief anschauen oder angehen würde wegen meines unglaubwürdigen Englisch oder meiner Uneindeutigkeit, dass man die Leute auf der Straße oder im Café über die aktuelle Lage sprechen hören würde, dass die Stimmung ein bisschen seltsam und angespannt sein könnte? Mit ansteigender Tendenz: ja, schon. Und was war?
Angeschrieen, dass allerdings auf teilweise einigermaßen faschistoide Weise (ein paar Abgeordnete folgen ihrem Verstand oder Gewissen statt dem Premier: Volksverräter, Ende der Demokratie, Kapitulation vorm Feind, um sinngemäß zu zitieren) wurde ich ausschließlich von den Zeitungsauslagen. Die Bildschirme, die hier und da an Wänden hingen und grundsätzlich die letzte Debatte zeigten oder zumindest einschlägige Breaking-news-Banner am Laufen hatten, waren dagegen schon stumm. Die Leute: redeten über anderes und waren freundlich zu mir, freundlich zueinander, supremely unconcerned, mildly entertained, man konnte jedenfalls von außen diesen Eindruck bekommen.
Eine hiesige Zeitung zitierte wenig später einen Londoner Autor mit der Bemerkung, die Atmosphäre in England sei damals schon „niederschmetternd“ gewesen. Ich vermute, das heißt, man behält dort seine Tages- und Jahresform einfach mehr für sich und aus der Straße raus. Kaum zurück in D, war ich wieder schnellstens und genauestens über die Befindlichkeit etlicher meiner Mitreisenden informiert, über schreckliche Kollegen, schreckliche mehrminütige Verspätungen der Bahn, schreckliches mehrregentropfiges Wetter, und bei allen gelüfteten Ärgernissen ging es doch nicht um einen fundamentalen und maximal chaotischen politischen und wirtschaftlichen Umbruch mit völlig ungewissen Folgen.

Mir wurde etwas später erzählt, die Briten hätten dieser Tage in einer großen Tageszeitung darüber abgestimmt, welcher Song die Stimmung im Land am besten wiedergebe. Es wurde „Panic“ von The Smiths.

:– Scarborough –:

Ich wollte ans Meer und aus Simon-and-Garfunkle-Gründen nach Scarborough. (Tatsächlich hat man in Leeds schon deutlich das Gefühl, nah am Meer zu sein, der Wind und die Luft sind so, aber eigentlich ist man auf dieser Höhe Englands dort gerade maximal von der Küste entfernt.) Man sieht bei der Abfahrt per Zug über die Brücken und Bahndämme manchmal ja quasi die Innenseite, die Rückseite und Krähe-auf-Hausdach-Perspektive von Städten, auch hier, und das war der Moment, in dem ich mir zum ersten Mal dachte, dass ich in dieser Stadt auch gern leben würde.
Die restliche Fahrt war sehr grün vorm Zugfenster.
Scarborough erschien mir in sehr vielen Schichten sehr alt. Am ältesten ist natürlich eigentlich die Burg, aber die Stadt als das Seebad, das sie mal war, schien mir älter. Noch älter als die riesigen, nicht mehr mondänen Seaside-Hotels erschienen mir die Vergnügungsgeschäfte und Speiselokale am Strand entlang, der Frittierfettgeruch in der seeabgewandten Straße dahinter, die Reisebusse und die Menschen, die ausstiegen, und die Läden in diesem Teil der Stadt. Es gibt dort kaum Shops, praktisch alles ist ein „Emporium“, und dann gibt es noch den Taxidermie-Laden, die linke Hälfte des Bodens komplett vollgestellt mit ausgestopften Lebewesen, die meisten davon, worauf ein Zettel im Fenster hinweist, wesentlich älter als der möglicherweise missbilligende Betrachter, die rechte Hälfte ebenso dicht an dicht besetzt mit Porzellanpuppen, dazwischen ein schmaler Pfad von Ladentür zu Hinterzimmer. Circa 534 gläserne, gemalte, stierende Augenpaare auf mich gerichtet.
In den Seitenstraßen alte Armut, Armut seit Generationen, oder es scheint mir so.

Die Seepromenade um den Burgberg herum ist für Autos gemacht, kein Vergnügen, dort im Wind zu promenieren. Neben dem Skatepark geht, so ein Glück, ein Pfad ab und steil den Berg hinauf, halb abgerutscht und an sich gerade geschlossen, aber so gut, abbiegen zu können und auf Erdboden dem asphaltierten Elend nach oben zu entkommen. Es wird sehr schnell still und grün.
Von oben kommt die Stadt für mich doch noch zusammen: Die Skater und die Surfer, der einsame Seekajakfahrer in der nördlichen Bucht, die Häuserzeile oberhalb des Ufers; auf der anderen Seite der Hafen, das Riesenrad, die nun doch recht mondänen Hotels und die alte Hafenstadt mit ihren dunklen Ziegeldächern unter der Burg.
Ich suche vergeblich das Grab von Anne Brontë, und als ich wieder am Südstrand ankomme, fängt es an zu regnen. Nur ich und die Möwen sind noch da.
Dann gehe ich zurück zum Bahnhof, und weil mein Offpeak-Ticket noch nicht wieder gültig ist, während es um mich herum überall äußerst leer und nass und sehr, sehr offpeak aussieht, finde ich im Viertel nebenan noch einen vertrauenerweckenden Fish&Chips-Shop und Bittermints, noch mal: so ein Glück!
Die Bahnfahrt in den nassen Sachen war ein bisschen verfroren, und wieder in Leeds ankommen war ein bisschen wie wieder zuhause.

:– Landschaft–:

Leeds schien mir dreidimensionaler als andere Städte. Wenn man anderswo leicht eingetieft durch eine vielleicht einmal über Hügel geworfene Ebene aus Häusern läuft, eine zweidimensional ausgerollte Topographie, ist Leeds eher ein Wald oder ein sehr kleines Gebirge. Schräg hinter Ziegelbauten ragt Glas und Metall in den Himmel, zwischen dem Kanal und den Uferhäusern schlägt der Weg eine Kurve in eine kleine Bucht, über eine alte metallenen Brücke, stehendes Wasser und Seerosen. Hinter einem verfallenen Pub liegt eine Brache mit Betonklumpen und Gestrüpp, auf ihrer anderen Seite die Schnellstraße und die neuen Bürohochhäuser. Neben der Granary Wharf steigt ein Hausboot die Schleuse hinauf. Die Bahnbrücken über Straßen und niedrige Häuser hinweg und zwischen ihnen hindurch, runde Bauten, die nicht ganz in ihre Straßenzeilen passen, die Balkone über dem Kanal, das himmelhoch aufragende Queen‘s, der Abhang zum Kanal hin, die Stadt besteht auf ihre dritte Dimension, auf Kurven und auf alle Winkel zwischen den rechten, und es geht sich so sehr leicht.

:– The Spook School –:

The Spook School lösen sich auf, und das zu hören fühlte sich ungefähr so an wie 2003 die Nachricht, dass Sleater Kinney eine unbestimmt lange Pause machen würden, kaum dass man mich draufgebracht hatte und sie für mich wichtig geworden waren. The Spook School waren eine sehr große kleine Band. Sie hatten mich (und vermutlich etliche andere) durch das Schlimme, das Anstrengende, das Absurde und, mehr als das, das Großartige eines sogenannten Coming-Outs gesungen und dann noch durch das nächste und das darauf und durch einiges anderes auch, sie waren wirklich wichtig und ich hatte sie nie live gesehen. Aber es gab noch eine Abschiedstour durch Schottland und England, und deswegen war ich eigentlich nach Leeds gefahren.
Der Weg zum Venue am zweiten Abend in der Stadt erschien mir sehr dunkel und gott- und menschenverlassen, ein Unwetter wehte mir entgegen und die Straßen hatten ein Stück lang keine Namensschilder mehr zwischen der Innenstadt und dem Stadtteil, zu dem ich lief, mit einer selbstgezeichneten Karte, auf der ich nur die Wege untergebracht hatte, die ich langlaufen musste, nicht die, in die ich mich theoretisch verlaufen hätte können. Aber natürlich verlief ich mich nicht, wie gesagt, alle Wege waren genau die, die sie sein sollten und da, wo sie sein sollten, niemand behelligte mich, es begann zu tröpfeln, aber mehr auch nicht, dann noch mal um die Ecke in eine helle Straße mit geöffneten Lebensmittelläden, in ein Viertel, in dem offensichtlich sehr normal gelebt wird, und mit Leuten auf dem Gehweg, die gerade von der Moschee heimgingen.

Der Brunell Social Club sieht so aus und ist so gelegen, wie man sich das von Social Clubs im Norden Englands vorstellt. Alle dort, die, die ich eher für Stammpublikum halte, das Spook-School-Publikum eh, alle, die dort arbeiten, alle sind ungeheuer freundlich. Und wenn ich mich vor der Bühne umsehe, sehe ich, dass hier alle völlig unterschiedlich aussehen, aber viele zwei Gemeinsamkeiten haben, dass nämlich die meisten, wirklich die meisten, ebenso eindeutig nicht eindeutig binär zuordenbar sind wie ich, und wie sich das anfühlt, kann sich vermutlich nur vorstellen, wer die ersten 20 oder 30 Jahres seines Lebens davon ausgehen musste, dass niemand auf dem Planeten existiert, der ist, was man selber ist, und also selber auch gar nicht wirklich zu existieren; und dass die meisten lächeln, sich gegenseitig anlächeln und auch mich, genau wie ich alle anlächle, weil es so toll ist, dass sie da sind.

Die erste Vorband höre ich nur die letzten paar Takte lang, Punk und kein schlechter, mehr kann ich nicht sagen und tue ihnen damit bestimmt Unrecht. Dann spielen Leggy aus Cleveland, auch das, vermute ich, kann man unter Indie-Punk laufen lassen, aber hey! Erheiterung bei der Aussage, dass man aus Cleveland sei und Leeds ja mal sehr exotisch; große Freude darüber, dass man noch länger in England auf Tour sein würde, allgemeines Tanzen. Die waren nicht nur nett, sie waren sehr sehr gut.
Während Leggy spielen, kommen The Spook School schon mal raus, um sich den Gig anzusehen, es ist ein bisschen seltsam, kann aber auch nur so sein, dass diese vier, die dringend benötigte Musik gemacht haben und hilfreich waren dabei, die Geschichten richtig erzählen zu können, und was tut man, wenn man die eigene Geschichte nicht erzählen kann? Man ist verdammt dazu, die falschen Geschichten irgendwie passend zu klopfen, was sie aber nie ganz werden, sie gehen dann nie ganz auf; deswegen sich selbst passend zu klopfen zu den immer noch unpassenden Geschichten, was nicht gutgehen kann, nein; dass sie sich so überhaupt nicht, also schon so überhaupt gar nicht zu innerem Fanboy-Kreischen eignen (zu jung! zu klein! viel zu sehr einfach die Leute, die sie halt mal sind, es ist fabelhaft).

The Spook School are going to the moon, ich kann über diesen Gig leider nicht viel mehr sagen als das, weil ich über die wirklich wichtigen Konzerte nicht wirklich schreiben kann, bei denen ich genau da und nirgendwo anders bin, denn wenn ich genau da bin, kann ich nicht gleichzeitig danebenstehen und innerlich mitschreiben. Was nicht so oft gesagt wird, aber live extrem beeindruckend ist, ist, wie gut sie spielen, das ging, glaube ich, immer etwas unter neben dem, worum es bei ihnen geht. Ich fand es immer fast unglaublich, wie sie die Worte fanden für Dinge, die echt nicht leicht in Worte zu fassen sind und bei denen es auch gar nicht so offensichtlich war, dass man sie überhaupt in Worte fassen kann und sollte. Ihre Spieltechnik ist ähnlich, auf den Punkt als ginge es gar nicht anders. Ansonsten: Ich war schon auf einigen sehr emotionalen Konzerten, aber keines davon war ganz so emotional wie dieses, alles, was alle hier erlebt haben und diese Musik dazu hatten, ist im Raum so dicht und greifbar wie: Draußen gehen derweil die Gewitterwolken nieder. Auf dem Heimweg später haben sie klare kühle Luft dagelassen. Drinnen tanzen alle von Anfang bis Ende, und bei jedem Song sind es mal die einen und mal die andern, die noch ein bisschen mehr ausrasten, weil sie mit allem hören und tanzen, was sie sind und haben. Niall zerlegt es ungefähr bei der Hälfte des Gigs, um mich rum wird auch immer wieder geweint, kein Lied, bei dem nicht irgendwer die Hand auf dem Herz hat oder den Gesichtsausdruck, der sagt, wie sehr gut es war, genau diesen Song genau da, wo auch immer es war, dabeizuhaben.
Keine Fotos, zu nah. Es gibt ein Abschiedsvideo der Band, am Ende bekommt man einen Eindruck vom letzte Konzert in London; so ungefähr, nur noch mal anders (wir hatten auch mehr Platz zum Tanzen). Und dann sind sie weg.