Erster letzter Tag

An dem Tag, für den sie vorhergesagt haben, dass die Sonne explodieren wird, ist der Himmel klar. Wir versuchen, alles durch das große rechtwinklige Fenster zu beobachten, aber es ist schwierig, weil wir ja nicht direkt in die Sonne schauen können. Es hieß, es würde einen großen Blitz geben, sie würde ihre äußere Hülle abstoßen und dann klein und rot werden, und dann würde es viel zu heiß, viel schlimmer als in einem Ofen, und die, die das irgendwie überlebten, würden anschließend erfrieren, und wer sogar das überlebte, würde unter die Herrschaft eines Tyrannen fallen, der seine Machtergreifung nach der Nova schon längst geplant hatte und schon lange in seinem Bunker saß, und meine Schwester hat gesagt, dass sie sich schon am Anfang umbringen würde, bevor ihr das alles passiert. Ich glaube es ihr, denn meine Schwester hat niemals Angst. Als wir einmal zurück zum Haus liefen und das Gewitter viel schneller da war, als wir gedacht hatten, sah ich lautlose Blitze um uns herum einschlagen, denen kein Donner folgte, und einer tänzelte um sie herum wie eine sehr schnelle Schlange und umhüllte ihre Füße mit gleißend blauem Licht, und sie lief einfach weiter und löschte ihre brennenden Hosenbeine im hohen nassen Gras. Danach mussten nur ihre Handflächen verbunden werden, mit denen sie die letzten Flammen abgestreift und erstickt hatte. Wenn es also so ist, dass man es entweder selbst tun muss oder es noch viel schlimmer passiert, dann weiß ich, dass sie es kann, und ich weiß auch, dass ich es nicht können werde und dann alles erleben muss, was ich nicht aushalten kann.

Jetzt ist die Sonne wirklich ein bisschen rot geworden, aber es war zuvor kein Blitz dagewesen und es wird auch schon Abend, und vielleicht liegt das Rote nur daran; und mir fällt auf: Woher will denn irgendjemand so genau wissen, wann ein Stern explodiert? Und kurz bin ich erleichtert, dass es vorüber ist und nichts passiert ist und alles immer noch so ist wie vorher.

Aber dann ist es doch nicht so wie vorher, weil alles, was sie gesagt haben, irgendwann ja doch passieren wird. Wahrscheinlich sogar bald, und man wird nie wieder wissen, dass es heute nicht passiert, und dass heute noch alles ganz und gut ist und morgen wahrscheinlich auch. Ab jetzt werden wir jeden Tag damit rechnen, dass alles schrecklich wird und nie wieder gut.

Ich sehe zu meiner Schwester und frage, wie würdest du es machen?
Sie sagt, denk dir doch selbst was aus.
– Aber wenn es so weit ist, nimmst du mich mit?
Sie sieht mich mit ihrem Große-Schwester-Blick an und sagt: Nö, das musst du schon selber können. Bist doch früher auch immer von den hohen Bäumen gesprungen, konntest es doch.
Und ich denke, ja, aber dabei ging es ja eben darum, nicht zu sterben, und unten war auch Matsch und Moos. Und wenn wir im Fluss herumgeklettert sind auf glitschigen Felsen und Baumstämmen, die sich unter einem wegdrehen, dann war da immer noch Wasser und nicht nichts.

Vielleicht brauche ich den höchsten Baum der Welt, so dass ich im Fallen an das Moos unten denken kann und daran, wie weich es sein wird, so lange, bis ich vom Fallen ohnmächtig werde und weiter falle und immer noch weiter falle.
Das ist eine gute Idee. Gleich werde ich mein Bündel schnüren und losgehen. Viel wird nicht darin sein, denn man muss nicht viel mitnehmen, wenn morgen wahrscheinlich die Sonne explodiert; aber vielleicht schaffe ich es vorher zum Äquator und zum Urwald und den hohen Bäumen, und wenn nicht, dann werde ich vielleicht unterwegs mutig; und wenn ich mutig werde und die Sonne nicht explodiert und die Sonne nie explodiert und ich am Äquator lebe und mir eine kleine Hütte aus Ästen und Lianen baue und von Früchten lebe, obwohl sie vielleicht giftig sind – es ist ja egal, denn vielleicht explodiert ja die Sonne – und von kleinen Echsen und irgendwann von großen Echsen, weil die länger vorhalten, und mir ein langer Bart wächst und irgendwann grau wird und vielleicht jemand vorbeikommt und bei mir wohnen bleiben will, oder vielleicht will er mir nur mein Bett aus weichem Moos und den Schmuck aus Echsenzähnen stehlen, aber das ist egal, weil man immer noch nicht weiß, ob die Sonne doch noch explodiert, und wenn ich dann irgendwann am Fluss sitze und zu alt bin, um vor der größten Echse der Welt noch davonzulaufen, aber vielleicht ist die Echse auch zu alt, um mich zu fressen, und wir bleiben unter dem höchsten Baum der Welt im Moos liegen, bis wir einschlafen und es ganz egal ist, ob die Sonne noch explodiert, weil wir beide einfach so gestorben sind –

dann habe ich eben dort gelebt, und nicht in diesem Erdgeschosszimmers mit dem einen großen rechtwinkligen Fenster.

Und kurz bin ich erleichtert, dass es vorüber ist und nichts Schlimmes passiert ist.

Aber ich bin ja immer noch im Erdgeschosszimmer mit dem einen großen rechtwinkligen Fenster und ist es immer noch so, dass alles, was sie gesagt haben, irgendwann ja doch passieren wird, und vielleicht gleich jetzt, denn wer sagt eigentlich, dass die Sonne nur am Tag explodieren kann?, und ich bin gerade mal dabei, mein Bündel zu schnüren, oder vielleicht denke ich mir das auch nur aus, und ich weiß noch nicht, ob ich wirklich gleich losgehe oder es nur spiele.

– Was machst du denn da jetzt wieder, sagt meine große Schwester, und ich sage, dass ich packe, um zum Äquator zu gehen, wo es hohe Bäume gibt, von denen man springen kann, falls die Sonne explodiert, und ansonsten werde ich da eben wohnen.
– Das machst du ja doch nicht, sagt meine große Schwester und schaut gelangweilt aus dem Fenster, obwohl man draußen gar nichts mehr sehen kann, weil es schon dunkel ist.

… Und wenn du wirklich gehen würdest, sagt sie, dann würde ich an deiner Stelle ein richtiges Messer mitnehmen und nicht dein stumpfes altes Taschenmesser. Warte mal.

– Genau, wusste ichs doch, im Schuppen lag eins, und ich glaube, die kleine Axt können wir auch brauchen, wenn wir mal Holz machen müssen.
– Wir? Wer sagt denn, dass ich dich mitnehme?
– Du mich mitnehmen? Dass ich nicht lache … Ohne mich kommst du ja nicht mal an der nächsten Stadt vorbei, du weißt doch, was da ist mit den komischen Hunden …
– Na und, schreie ich. Dann bin ich dann halt tot! Unsre Eltern sind nicht mehr da, die Sonne explodiert, und der Äquator ist am Äquator, weißt du, wie weit das ist? Da kommt doch kein Mensch hin. Mir doch egal, wenn mich vorher ein Hund frisst.

Dann packen wir beide verbissen und böse und sagen nichts mehr und stopfen nur unsre Sachen möglichst laut in die Rucksäcke. Wir rempeln uns gegenseitig von der Garderobe weg und schnüren unsre Schuhe mit dem Rücken zueinander. Wir ziehen unsre Jacken an und nehmen unsre Rucksäcke und stehen eine Weile in der Diele herum, ohne uns anzuschauen.
– Also, sagt meine Schwester. Das war eine gute Idee mit dem Äquator. Sollen wir gehen?
– Ja, sage ich.
– Hast du dein Messer?
– Ja. Du deins?
– Auch.
– Dann?
– Ja, dann.

Wir gehen vor die Tür und hinaus in die Nacht.

Es ist sehr still. Über uns sind Sterne. Der Wind rauscht in den Bäumen. Dann bellt irgendwo ein Hund, aber es klingt wie ein normaler Hund. Der Kies in der Einfahrt knirscht unter den Schuhen, als wir losgehen.
Es ist dunkel. Jetzt ist es dunkel, wie eine Decke, unter der man sich verstecken kann, bis es hell wird; aber erst am Morgen, wenn wir an der nächsten Stadt schon lange vorbei sind. Ich glaube, es wird am Morgen ganz normal hell, egal, was sie gesagt haben.