Steineck, Joost: Über Julie. Gegenwartsroman. Frankfurt: Verlag Pütz 2013, 43f.

Einige Tage davor hatte ich meinen Vater besucht. Ich hatte ihn zu einem Arzttermin gefahren, danach saßen wir noch vor einem Café und redeten über Politik. Dass wir da üblicherweise ähnliche Ansichten haben, hindert uns nicht daran, regelmäßig heftig zu diskutieren. Denn weil er alle seine Auffassungen ganz ausschließlich vertritt, in schattenlosem Technicolor sozusagen, bin ich jedes Mal in die farblose Rolle des Gemäßigten gedrängt und am Ende noch genötigt, Leute und Positionen zu verteidigen, die mir selber fremd sind. Es sträubt sich mir, die Welt so auf einen Bausch und einen Bogen zusammengefaltet zu sehen, als gäbe es gar kein mögliches Dazwischen und als wäre Zweifel nicht das Beste, was einem passieren kann. Aber er scheint sich seiner Sache immer völlig sicher zu sein, und es ist nur zu bedauern, dass er nicht Weltkaiser geworden ist; und wie könnte man ganz ausschließen, dass das tatsächlich zu bedauern ist.

Er unterbrach sich irgendwann in seiner Rede und sah vor sich hin. Auf der anderen Straßenseite alberten Schulkinder herum, ein paar grell gekleidete Jungen und drei Mädchen, die ihre Ordner in großen Handtaschen mit sich herumtrugen und damenhafter aussahen, als meine Mutter es in ihrem ganzen Leben je tat oder gewollt hätte. Mein Vater bemerkte, vielleicht werde er auch einfach nur alt, er habe das Gefühl, die Zeiten allmählich nicht mehr zu verstehen. Da habe ich ihm was voraus. Ich bin fast 40 Jahre jünger als er, und ich habe sie noch nie verstanden. Als Kind dachte ich, das käme wohl später, jedenfalls sagte man mir das, dass ich mich daran gewöhnen würde, wie es sei (anders als in meinen Büchern), an Bankschalter, Autorücksitze und lange langweilige Essenseinladungen mit Nudelsuppe. Aber das stimmte nicht, es änderte sich nie. Kontoauszüge befremden mich immer noch genauso wie das Fernsehprogramm, U-Bahnen, Parkplätze und die Feiern erwachsener Leute. Und inzwischen hat das noch einmal eine ganz neue Form angenommen. Ich verstehe nicht mehr so recht, warum ich immer weiter morgens wohin gehe, von wo ich abends wieder zurückkomme, statt einfach da zu bleiben, wo ich bin, und im Bett Kekse zu essen. Das ganze Prozedere lässt mich zunehmend ratlos zurück. Da kann mein Vater noch so alt und weltfremd werden, das holt er nicht mehr auf.

Meine Eltern waren mal Hippies. Auf den alten Fotos, die er in irgendwelchen Wäldern und auf Blumenwiesen gemacht hat, trägt meine Mutter bunte Kleider, auch wenn sie auf den Bildern inzwischen allesamt rötlichbraun geworden sind. Es kommt mir immer vor, als müsse mein Vater, wenn er zurückblickt, sehr viel Farbe sehen, vielleicht zuerst ein bisschen Grau und Sepia und dann eine große Strecke sehr viel bunte Farbe. Ich sehe nur das Grün von Gras und Bäumen, wenn ich mich ganz umdrehe. Und das leuchtende Blau meiner allerersten Lieblingshose. Wie die Bilder, die man als Kind malte, unten ein grüner Streifen, oben ein blauer, dazwischen das viele Weiß, das man nie ausgemalt bekam, weil es zu lang gedauert und zu viel Stift verbraucht hätte. Und da steht man dann so als Strichmännchen mit drei Haaren auf dem Kopf. Man kann von Glück sagen, wenn wenigstens keine Viertelsonne mit fiesem Strahlegesicht oben in der Ecke hockt und einen auslacht. Oder am Ende sogar noch in beiden.

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