Glückliche Geschichten sind schnell erzählt

 

CN: Gewalt, Übergriff


 

Komm; es ist nicht mehr weit. Zwischen den dünnen weißen Stämmen sehe ich schon die Mauern meiner Stadt, fast schwarz hinter den Zwergbirken. An den Zweigen um uns herum hängen noch ein paar gelbe und braune Blätter; der Boden ist weiß von Reif, und was vom Gras des Vorjahres noch steht, strohhell, knistert unter unsren Füßen. Ein paar Meter weiter sitzt eine Krähe in einer Astgabel, mit einem Fetzen in den Krallen, vielleicht ein Fetzen Fleisch, an dem sie zerrt. Der kleine Baum schwankt unter ihr. Jetzt sitzt sie still und sieht uns zu, bis wir vorüber sind. Manchmal stoße ich gegen eine Wurzel, oder an einen Stein. Du auch. Wir sind ein bisschen müde. Aber wir sind auch bald da. Der Pfad, nur eine dunkle Spur auf dem Boden zwischen den Bäumen, führt zu einem der neun Tore, und ich kenne den, der dort Wache hält, er wird nicht lange fragen, wer wir sind und was wir wollen. Bald sind wir im Warmen und haben zu essen.
Komm.

Neun Tore. Die Fluchtburg, wie die Alten sie noch nennen, meine kleine Stadt mit den starken Mauern, sie ist nicht groß, eher ein Dorf, aber sie hat neun Tore, in jede Richtung eines. Wahrscheinlich werden sie sich später fragen, und sie fragen jetzt schon, die von woanders her, was wollt ihr mit euren neun Toren? Wenn ihr euch verteidigen müsst, dafür ist es schließlich eine Fluchtburg, warum gebt ihr den Angreifern neun Möglichkeiten einzufallen, gegen ein Neuntel eurer Zahl? – Aber wir müssen uns nicht verteidigen. Wir werden nicht angegriffen. Wir brauchen unsere neun Tore, damit wir aus jeder Richtung nicht angegriffen werden.
Bis wir da sind, kann ich dir erzählen, warum es so ist.
Aber erst nach der nächsten Biegung, denn das ist die Geschichte, wie sie abends ist, allein, mit all den anderen um mich herum, die schon schlafen und schnarchen, und meiner kleinen Nichte neben mir, die sich herumwälzt und nicht schlafen kann, weil ihr Ausschlag sie quält und das Schnarchen auch, mit den Schatten an der Wand, die das verlöschende Feuer wirft, in einem Raum mit wenig Luft und vielen anderen, von denen niemand du warst:

Neun Tore. Sie sind immer bewacht, obwohl uns nie jemand angreift, und obwohl es nachts im Wald um die Stadt herum ruhig ist, sind wir alle immer vor Einbruch der Dunkelheit zurück, von wo auch immer wir tagsüber waren, wieder hinter den Mauern, mit allen anderen, im Engen und Geschützten hinter den Toren, die fest verschlossen werden bis zum nächsten Morgen. Die Wächter stehen auch nachts dort oben, an jedem Tor zwei, und immer zwei laufen den Abschnitt zwischen zwei Toren ab, hin und her, die ganze Nacht, obwohl uns nie jemand angreift und nie jemand versucht, über die Mauer zu gelangen.
So ist es fast immer.
Viermal im Jahr ist es anders. Dann gehen wir mittags hinaus und bereiten das Mahl vor. Wir schlachten Kühe, Ochsen und Schafe. Die großen Kessel dampfen den ganzen Nachmittag, der Geruch zieht durch die Gassen. Wir bringen große Fässer hinaus, Bier und Wein, und schlagen Löcher in ihre Deckel. Wir backen Brot und kochen Grütze. Am Abend sammeln wir uns zum Essen, alle vor dem Tor, das ihrem Haus am nächsten liegt, und wir essen ein wenig vom Fleisch, schöpfen uns einen Becher Bier und nehmen vom Brot. Wenn die Sonne in den Birkenzweigen hängt und die Krähen sich sammeln, nehmen wir unsre Becher und heben sie, mit dem Rücken zu den Toren, und trinken dem zu, was da draußen ist. Dann nehmen wir auch unsere Teller und stehen auf. Bevor wir durch die Tore gehen, schütten wir, was noch in unsren Bechern ist, über die Schulter auf den Boden. Wir blicken uns nicht mehr um. Wir gehen hinein und verschließen die Tore, lassen die Kessel draußen stehen, aus denen es noch dampft, das meiste vom Brot, die fast vollen Fässer.
Diese Nächte sind sehr dunkel und sehr still. Keiner geht durch die Straßen, niemand arbeitet noch am Fenster beim Licht einer Lampe oder des Mondes. Die Wächter verlassen die Mauern und gehen zu ihren Häusern, schließen die Türen, bringen ihre Kinder zu Bett, schippen die glimmenden Kohlen unter die Gluthaube und löschen das Licht. Dann warten wir, die meisten schlafend, manche wachend, im Dunkeln. Wir hören nichts und sehen nichts. Wir warten, bis es vorübergegangen ist.
Und bis es wieder hell wird.
Dann schüren wir die Feuer wieder an, die Wächter kehren auf ihre Posten zurück und öffnen die Tore, wir holen die leeren Kessel in die Stadt, die leeren Fässer und Brotkörbe; und dann gehen alle wieder an ihre täglichen Verrichtungen, bei denen uns nie jemand stört, und das einzige, worauf wir achten müssen, ist, abends innerhalb der Mauern zu sein, bevor die Sonne untergeht.
So ist es immer.

Aber einmal werde ich den Zeitpunkt versäumen, ich weiß es, eines Abends ist es so weit. Ich laufe auf die Stadt zu, die Sonne im Nacken, meine Lunge pfeift und meine Füße schmerzen vom Trommeln auf dem harten Boden, aber die Stadt ist zu weit weg und die Sonne zu schnell, sie überholt mich, und ich verliere; sie verschwindet hinter der Stadtmauer, hinter dem Tor, das sich schon schließt. Ich höre den Aufprall des Querbalkens in der Halterung und das Rasseln der schweren Kette. Erst dann erreiche ich das Tor und halte an, falle fast dagegen und bekomme keinen Atem, und stehe trotzdem draußen. Die oben auf der Mauer sehen zu mir herunter, im Gegenlicht kann ich nicht sehen, ob sich in ihren Gesichtern etwas regt; sie sehen herunter und verschränken die Arme. Ich rufe auch nicht zu ihnen hinauf. Ich kenne die Regeln ja. Ich stehe da und sehe das Tor an, und dann nach oben, zu den behelmten Gestalten in ihren langen Mänteln, die mir jetzt den Rücken kehren, und sehe wieder das Tor an, es ist immer noch zu, sie machen es nicht noch einmal auf, es ist wirklich zu, und ich bin auf der falschen Seite. Draußen. Zum ersten Mal, während es dunkel wird. Ich weiß nicht, was man dann tut. Und was dann passiert. Das ist ja das, was nicht passiert, jedenfalls nicht mir.
Ich stehe da.
Und es wird dunkel.

Zwischen der Mauer und dem Wald ist ein Streifen niedergetrampelte Wiese, blanker Boden. Ich fühle mich wie auf einem Teller. Ich schäme mich, hier zu stehen, man kann mich sehen und ich bin allein. Ich sehe mich um, wohin? Ich weiß, wo die Hütten der Kohlebrenner liegen; solange ich denken kann, hat man mich oft genug vor diesem Pfad gewarnt. Ich weiß, dass sie gegen ein Entgelt über Nacht zu sich einlassen, wer es nicht mehr in die Stadt geschafft hat. Ich habe davon gehört. Ich weiß, was sie verlangen, oder so hat man mir erzählt. Ich war noch nie dort.
Aber im Wald bin ich jeden Tag. Die Bäume immerhin kenne ich. Ich gehe zu ihnen zurück. Es sind dieselben wie vorhin, auch wenn sie mir größer vorkommen und ich die Hände ausstrecken muss, um zu fühlen, wo ihre Zweige beginnen und enden, die jetzt dunkle Risse im Dämmer sind; aber ich will lieber hier sein als allein vorne an der Mauer. Ich taste mich in den Wald hinein und suche nach einer geschützten Stelle. Es ist nicht allzu kalt. Vielleicht kann ich einfach hier draußen warten, bis es hell wird? Ebenso still, und im Dunkeln, wie wir es viermal im Jahr in der Stadt tun. Das nächste Mal werden wir unseren Haushammel schlachten müssen, wir sind damit an der Reihe. Ich denke an meine Gasse, an die Häuser, wer wo wohnt, was sie jetzt tun, während ich mich hier draußen ins feuchte Gras unter einen Baum setze, der ein wenig kräftiger ist als die anderen. Seine Äste sind ein bisschen dichter und reichen um mich herum fast bis zum Boden. Über mir höre ich etwas, ein Kratzen von Krallen. Ich sehe hinauf, und ich glaube, die Krähe sieht zu mir herunter, dann sinken wir beide in uns zusammen. Ich wickle mich in meinen Mantel, so gut es geht, und ziehe meine Füße unter mich. So an den Stamm gelehnt könnte es gehen. Wenn ich ganz leise bin, halb schlafe, damit die Nacht vergeht, halb wach bleibe, damit – ich weiß nicht. Ich werde nicht schlafen.

Es ist kühl, und feucht. Es wird noch dunkler. Es wird richtig dunkel. Schwarz. Und dann wird es kalt. Die Kälte kriecht aus dem Boden unter meinen Mantel und klettert an mir hoch, bis sie auf meinen Schultern hockt und sich in meinen Nacken krallt. Meine Zähne klappern und ich schlottere, wo ich sitze. Ich weiß nicht, ob ich so bis zum Morgen hier bleiben kann. Aber wenn ich aufstehe und gehe, um mich aufzuwärmen, stolpere ich nur und falle und werde mich verirren, und vor allem werde ich Lärm machen und zu hören sein, für das, weswegen wir die Tore abends verschließen. Vielleicht kann es mich sowieso hören. Meine Zähne klappern so. Aber solange ich sitze und mich klein mache in meinem Mantel, hoffe ich, dass es mich übersieht.
Was auch immer es ist. Wenn es überhaupt etwas ist, höre ich mich denken und schlage mir fast die Hand vor den Mund, außer Mardern und Füchsen.

Ich glaube, ich sitze ein Stück rechts von dem Weg, den ich hergelaufen bin; da drüben ist es etwas heller. Glaube ich. Ich sehe dorthin, weil ich dort beinahe etwas erkenne. Oder mir das einbilde. Oder mir jedenfalls vorstellen kann, wie es morgens wieder hell wird.

Aber ich glaube, es ist noch etwas dort. Weswegen ich hinsehen muss. Ich kann nichts erkennen, das Schwarzgrau da drüben blendet mich im Dunkeln, die Augen tun mir weh vor Anstrengung und die Schatten, die ich zu unterscheiden glaube, tanzen immer weiter, egal ob ich die Augen schließe oder sie offenhalte. Bewegt sich dort etwas? Habe nur ich meinen Kopf bewegt? Bestimmt, ich zittere so. Aber bewegt es sich dort nicht auch? Ich lege mein Gesicht auf die angezogenen Knie, in den feuchten Mantel, so muss ich nichts sehen außer Schwarz. Es ist bestimmt nichts dort.
Es ist bestimmt etwas dort. Ich muss wieder hinsehen. Ein Schatten, der sich bewegt hat, vielleicht. Vielleicht bilde ich es mir ein. Ich versuche, nicht so laut zu zittern. Ich beiße die Zähne zusammen, ziehe die Schultern höher und nein. Da ist nichts.

Vielleicht doch.

Etwas kommt den Weg entlang, langsam, klein, ich sehe es nicht, aber etwas verschluckt dort das letzte Licht im Dunkel, während es sich vorwärtsbewegt, langsam, langsam. Unstet. Keine gerade Linie. Nicht auf mich zu, nicht auf mich zu, entlang des Weges, nicht auf mich zu, aber wie in kleinen Schlangenlinien, als ob es schwanken würde oder sich umsehen. Dann höre ich etwas.
Ich kenne das Geräusch, es klingt nur anders. Es klingt nicht wie ein Säugling, der beim ersten Krabbeln röchelt und schnauft.
Ich höre auf zu atmen, aber es ist so langsam. Es wird nicht vorbei sein, bevor ich ersticke, wenn ich nicht Luft hole. Ich hole Luft.
Der Schatten verharrt.
Ich presse mich an den Baum. Nicht rühren, keinen Laut.
Ein kleines hungriges Schmatzen. Rascheln. Es krabbelt weiter, ich sehe nicht wohin, ich klammere meinen Mantel fest. Und warte. Und warte. Es raschelt. Lauter? Näher. Leiser?

Als ich mir sicher bin, dass es sich weiter den Weg entlang bewegt hat, versuche ich zu schlucken. Etwas liegt im Weg, taub und dick im meinem offenen Mund. Es ist meine Zunge. Leise, leise, lautlos geht mein Atem wie der Schrei, von dem ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich ihn nicht doch geschrien habe.

Leise, langsam, beinah lautlos setze ich mich zurecht, um zu warten. Und warte.

Ich muss eingeschlafen sein. Jedenfalls wache ich auf, aus etwas mit Feuern und Rufen, mit klappernden Zähnen. Meine Beinen und Hände sind vor Kälte starr und verkrampft vom Hocken, ich kann sie nicht mehr richtig spüren. Ich kann auch nichts hören außer meinem eigenen Zittern.
Ich kann mich nur noch weiter zusammenkauern. Das Gesicht in meinem taunassen klammen Mantel vergraben, ist mein Atem und das Klacken in meinem Mund gedämpft, und ich höre den Wald um mich herum. Einen schwachen Windhauch in den Blättern. Ein Rascheln im Gras. Über mir setzt sich die Krähe zurecht, glaube ich, jedenfalls höre ich ein schwaches seidiges Schaben wie von Federn. Ein halbes Krächzchen, wie im Schlaf, ich frage mich, ob Krähen auch schlecht träumen. Aber sie ist noch da. Das ist gut, dass ich nicht alleine bin, ein lebendes Wesen sitzt ruhig über mir. Vielleicht ist ja alles in Ordnung und vielleicht wird es auch bald hell.
Ein Rascheln im Gras.
Links vor mir. Etwas näher als das vorhin. Und noch eins, von rechts. Links etwas wie ein Schnaufen und ein halbes Stöhnen, ein Knacken von trockenen Knochen. Ein Schritt, und dann Holz auf dem nassen Boden, ein Schlurfen wie ein nachgezogenes Bein. Schritt. Klopfen. Nachziehen. Links. Rechts ein Patschen. Dort kriecht etwas durchs Unterholz auf mich zu.
Es kommt leise, aber unverhohlen, und langsam, aber es kommt auf mich zu. Ich weiß es, sobald ich es zum zweiten Mal höre. Und ich sehe nichts. Ich halte den Atem an und höre, höre es links, höre es rechts und höre, dass genau vor mir nichts ist, jedenfalls nichts, was sich bewegt oder atmet. So leise ich kann richte ich mich am Baumstamm hinter mir auf, bekomme das Gewicht auf meine Füße, meine Beine geben nach, sie sind eingeschlafen; ich muss stehen und mich nicht bewegen, bis das Blut zurückgekehrt ist, bevor ich weglaufen kann. Sie kommen näher, aber sie kommen unendlich langsam, das eine scheint nah am Boden zu sein, klein und vierbeinig, es zieht sich mehr vorwärts als dass es geht. Das andere ist größer. Aber nicht größer als ich. Es schnauft, es scheint Mühe zu haben. Meine Füße hören auf zu brennen, ich kann auftreten, ich glaube, sie tragen jetzt. Ich gehe los, gerade nach vorne, auf die kleine Lichtung hinaus und in die Bäume gegenüber hinein, es sind nur ein paar Schritte. Ich mache Krach, Zweige brechen und Blätter schaben an meinem Umhang, ich stoße gegen Steine, ich würde laufen, wenn ich irgendetwas sehen würde. Kommen sie mir nach? Sind sie schneller geworden? Ich muss stehenbleiben, mit meinem hämmerndem Herzen, und zu hören versuchen, obwohl ich nur rennen will – sie sind jetzt hinter mir, beide, sie müssen schon sehr nah gewesen sein. Jetzt sind sie an meinem Baum, ich höre es, weil die Krähe aufflattert und einmal schreit, dann ein Laut von Federn und Fleisch und Knochen, und dann nichts.
Ganz kurz nichts. Dann höre ich sie wieder, Atmen, eins hoch, eins tief. Sie sind schneller geworden, aber nicht viel, das Rascheln ist hektischer und das Schnaufen schwerer, aber ich bin schneller, wenn ich gehe; und ich gehe.
Ich weiß, dass ich von der Stadt weggehe. Um zum Weg zu kommen, müsste ich mich seitlich halten, dann würde ich den Weg eines der beiden kreuzen und Vorsprung verlieren. Ich gehe nach vorn, ohne zu wissen, was vor mir ist.

Ich gehe.
Wir gehen. Lange. Sie hinter mir. Manchmal fallen sie zurück. Dann hocke ich mich hin, oder versuche es, bald kann ich die Knie nicht mehr so weit beugen, es tut zu weh, oder ich lehne mich an einen Baum, der unter meinem Gewicht nachgibt, und jedes Mal hoffe ich, dass sie mich verloren haben, und bin fast schon eingeschlafen. Und jedes Mal, wenn ich taumle und auf den Boden fallen und endlich liegen will, höre ich es rascheln. Rechts. Links. Schaben, Schnaufen; und ich muss wieder auf meine wunden Füße und die zitternden Beine, gegen die viele Müdigkeit in meinen Knochen, die schmerzt, schmerzt, mehr als ein Felsblock, und ich muss gehen.
Ich muss gehen. Es schmerzt. Wirklich nicht mehr. Dann kommen sie. Der Boden schwankt, ich falle in Äste, die mich zerkratzen, aber auffangen, versuche zu stehen, falle vorwärts. Gehe. Falle weiter.

Wenn die Sonne aufgeht, bin ich in den Wäldern verloren. Wenn je die Sonne wieder aufgeht. Was sie nie mehr tun wird. Die Ewigkeit ist dieser Wald und die Nacht und das Rascheln in meinem Rücken. Und gehen müssen. Oder wird es heller? Es wird doch heller. Es wird nicht heller. Es war nur eine kleine Lichtung. Es wird wieder dunkler, in die Zweige hinein, die sich überall an mir festhaken, über den Boden, der meine Füße immer dort trifft, wo sie nicht mit ihm rechnen. Ich falle, stehe auf, falle, ich höre sie kommen, ich stehe auf.

Als ich schon lange tot bin und nur meine Beine immer noch gehen, wird das Schwarz langsam grau. Und bleibt grau. Es wird nicht mehr schwarz.

An manchen Stellen erkenne ich die Stämme. Dann die Äste, bevor ich in sie hineinlaufe. Dann noch etwas, vor mir, die dunklere Masse über der Linie der Baumkronen. Das muss die Stadtmauer sein. Ich weine, schon seit Stunden, mir laufen seit Stunden Tränen über das wunde Gesicht und brennen in der offenen Haut, aber jetzt weine ich laut und mit einem komischen Schluchzen, während ich versuche, etwas zu sehen. Vor mir ist die Stadt, und ich bin fast da, dann kann ich immer an der Mauer entlanggehen, bis es hell wird, und mich abstützen dabei. Es wird leichter sein. Ich werde es schaffen. Ich habe es fast geschafft. Ich beginne zu rennen, auf meinen toten Beinen.
Das ist der Fehler, den ich mache.
Etwas verfängt sich in meinem Mantel, ein Ast, so dass die Schließe mich würgt, es reißt mich zurück. Ich falle. Als der Lärm verklungen ist, höre ich sie hinter mir. Etwas, das sich knöchern und ächzend durch die Äste schiebt. Etwas, das klein und weich näherkriecht, kleine weiche Hände auf dem feuchten Boden. Und ich komme nicht auf die Beine, mein eigener Mantel hält mich fest, ich verfange mich immer mehr in seinem wasserschweren Stoff. Dann sind sie bei mir.
Das eine beugt sich über mich, ich höre es. Es stützt sich schwer auf seinen Stab, sucht Halt, um sich bücken und nach mir fassen zu können.
Das andere wartet nicht. Ich fühle eine kalte kleine weiche Hand am Knöchel meines Fußes. Es greift. Wie wochenalte Neugeborene greifen, ziellos, um des Greifens willen, arglos mit scharfen Nägeln.

Da wird es hell.
Die Sonne hat mich eingeholt. Sie läuft über die Baumspitzen, taucht die Mauer in ihr erstes Licht, dann fällt es durch das Laub über mir in die Zweige und fließt an den dünnen Stämmen herab. Sie weichen von mir zurück, die Alte und das kleine Kind. Langsam, langsam, auf allen Vieren das eine, gebückt und ächzend die andere.
Ich danke meinen Sternen, dass ich auf dieser Seite der Mauer war, wo es endet und anfängt, schwach und beinahe hilflos. Nicht dort, wo es jung ist und kräftig, in der Blüte der Jahre und vor allem schnell. Ich bin davongekommen. Ich kann nach Hause.

Ich setze mich auf und sehe mich um. Wald. Niedere Bäume, fahles hohes Gras, Moos. Früher Morgen. Nichts rührt sich mehr. Mir ist kalt, und ich habe Hunger. Ich will aufstehen, muss mich abstützen dazu und greife in etwas Klebriges, Nasses. Ich sehe meine Hand an. Ein paar schwarze Federn haften daran, in einer braungrauen Masse. Ich will es im Moos abwischen, aber dann halte ich inne. Ich zupfe die Federn heraus und lecke meine Handfläche ab. Es schmeckt salzig. Ich habe wirklich Hunger. Ich wende mich um zu den Resten der toten Krähe, hebe sie auf und sauge das restliche Fleisch von den Knochen, nage die Klauen ab, sauge Augen und Gehirn aus dem winzigen Schädel, und dann stecke ich ihn ganz in den Mund und kaue, bis ich schlucken kann.
Mir ist ein kleines bisschen wärmer. Aber nicht viel. Ich habe immer noch Hunger.

Vor mir liegt die Mauer im frühen Sonnenlicht, beinah rot ihr übliches Schwarz. Und jetzt sehe ich durch die Zweige hindurch einen Wächter auftauchen, in seinen grauen Mantel gehüllt, die Spitze seiner Lanze blinkt im Licht. Ich bin aufgestanden, sehe an mir herab, meine Kleidung ist zerrissen und verschoben, voller Flecken, dazwischen nackte Haut. Auch die Haut ist voller Flecken, und aufgeschürft und blutig. Ich ziehe das Hemd zurecht, so gut es geht, die Beinlinge und den Mantel und versuche den Gürtel so zu schnüren, dass er das Zerrissene zusammenhält; so, dass man von oben hoffentlich nicht erkennen kann, unter was ich gefallen bin.
Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf und tief in die Stirn. Dann gehe ich zum Weg, vorsichtig, der Wächter darf mich noch nicht sehen. Und am Wegrand setze ich mich hin und warte, so lange, bis ich bei Tageslicht von den Hütten der Kohlebrenner hätte gekommen sein können oder vom befestigten Hof der Ochsenbauern auf dem Hügel, und die Sonne wärmt mich, aber ich habe solchen Hunger. Meine Beine zittern, mein Magen ist ein Knoten. Ich breche einen Zweig ab und beginne darauf herumzukauen. Dann noch einen.

Dann ist es spät genug. Ich gehe zum Tor, ich muss nicht so tun, als habe ich mich beeilt, ich bin erschöpft genug, um den Weg in einer halben Stunde gelaufen zu sein. Der Wächter kommt und sieht auf mich herab, als ich angeklopft habe, er ruft:
Wo warst du heute Nacht?
und ich sage, ich hoffe, meine Stimme zittert nicht mehr, als die Antwort es rechtfertigt:
Bei den Kohlebrennern.
Das kann wohl erklären, warum ich aussehe, wie ich aussehe, und warum ich zittere. Ich kenne die Geschichten, ich habe gehört, was über die gesagt wurde, die vor mir das Schließen der Tore verpasst hatten und dort Zuflucht nehmen mussten. Ich weiß nicht, was davon stimmt, was wirklich mit ihnen passiert ist und wo und warum. Aber der Wächter lässt einen Laut hören, der nah an ein Lachen kommt und ruft, mit etwas Neuem in der Stimme: Und, hast du was mitgebracht? Das weißt du selber noch nicht, was; und dann mustert er mich, anders jetzt, von oben bis unten, und sagt etwas von die Lumpen loswerden und sauberschrubben. Ich höre Gelächter, hinter ihm sind noch zwei Wächter auf die Mauer gekommen und sehen zu mir herab. Ich sehe empor, ihre Gesichter sind deutlich im Morgenlicht, ich kenne sie nicht. Sie kurbeln die Ketten herauf und öffnen das Tor, und dazwischen grinsen sie zu mir herunter und sagen etwas. Ich verstehe nicht genau, was sie sagen, aber ich verstehe den Ton. Ich soll jetzt Angst haben und mich winden, zwischen Scham und Furcht und der Not, wieder in die Stadt zu kommen, also tue ich so, als würde ich zögern und mich umsehen, ob nicht noch jemand um diese Zeit des Weges käme und ich nicht mehr allein mit ihnen sei, als würde ich ein wenig schluchzen und hadern und mich dann hilflos dreinfügen und hoffen, dass sie mir vielleicht doch nichts täten; und ich bin ruhig dabei. Ich werde immer ruhiger, während das Tor aufgeht. Sie wissen nicht, wo ich war. Sie wissen nicht, wer ich bin. Sie lassen mich in die Stadt. Sie lassen mich wirklich in die Stadt, nach vierhundert Jahren, nach vierhundert Jahren Hunger, für den ich alle heilige Zeiten ein paar Krumen vorgeworfen bekam, ein paar Fässer Bier, ein paar Fetzen am Feuer verbranntes und totgekochtes Fleisch, bin ich endlich, endlich beinah in der Stadt.
Das Tor ist offen. Ich gehe durch den Bogen. Als eine Hand meinen Arm packt und mich ins Wachhaus zieht, wehre ich mich nur so stark, wie es unbedingt sein muss, und schreie nur ganz leise, ich will keine Aufmerksamkeit erregen, keine Helfer herbeirufen. Ich lasse mich von zweien auf eine Pritsche zwingen, lasse sie sich an den Resten meiner Kleidung zu schaffen machen und lasse sie lachen, während der dritte die Tür abschließt.
Dann esse ich sie auf.
Zuerst beiße ich dem, der auf mir liegt, die Kehle durch: warmes Blut. Aber ich kann nicht lange trinken, der zweite beginnt zu verstehen, was er sieht, er greift seine Lanze und richtet sie auf mich, während er irgendwas ruft; ich spieße den ersten auf die eiserne Spitze und reiße dem zweiten den Kehlkopf aus dem Hals. Den dritten, der jetzt versucht, die Tür wieder aufzusperren, die er gerade erst abgesperrt hat, dem der Schlüssel aus den fahrigen Händen rutscht, weil er über die Schulter nach den anderen beiden sieht, und der auf den Knien danach sucht und dabei schluchzt, wirklich schluchzt, nicht so wie ich vorhin vor dem Tor, dem lege ich meinem Gürtel um den Hals, den sie bei der Tür haben liegen lassen, und ziehe einmal fest zu.
Dann esse ich.

Ich dachte, ich könne mich satt essen. Ich dachte, es würde reichen. Aber als ich die Tür wieder öffne, im Gewand des dritten Wächters, das beinah fleckenlos geblieben ist, hinter mir ein Raum, in dem offensichtlich nichts Besonderes geschehen ist – zwei Wachen haben nach einer Waffenübung ihre schmutzige Kleidung hier liegengelassen, es ist gegen die Regeln, aber es kommt vor –, als ich hinaustrete unter das Tor und die enge Straße hinabsehe, die noch im Schatten liegt, bin ich hungrig.

Ich bin hungrig, als ich anfange, das Stroh vom nächstgelegenen Dach herunterzuzupfen. Ich bin hungrig, als eine Frau mit einem Korb voller Eier nicht am mir vorbeikommt. Ich bin hungrig, als ich aus dem kleinen Kuhstall an der Ecke zu meiner Gasse wieder heraustrete, hinter mir leere Milcheimer, leere Melkstände, das Häubchen der Magd und der Kittel des Hirten auf dem Boden. Ich bin noch hungriger, als ich vor meinem Haus stehe. In dem sie noch schlafen. In dem niemand unruhig gewacht hat und kein Held aus Götaland mit zwölf Kriegern auf mich wartet, weil er aus der Ferne von unserem Schicksal gehört hat und zu Hilfe geeilt ist. Das hier wird niemand hören. Sie werden nicht verstehen, später dann, warum die Stadt auf einmal aufgegeben wurde, ohne Kampf, ohne Tote; niemand wird von dem Tag erfahren, an dem die Wachen mich einließen. Ich bin ein Hunger, der seine eigenen Knochen frisst. Bis zum Abend wird von meinem Dorf mit den starken Mauern nichts übrig sein als sein schwarzes Gerippe, ein Rund mit neun Löchern, die Gassen leere Steinadern ohne einen Flecken Blut.

Ich trete ein. Es ist noch fast dunkel hier drinnen; ich sehe meine Mutter an der Kochgrube, die noch halb schlafenden Gestalten der anderen in ihren Betten; dort mein leeres Lager. Meine Nichte hat sich nicht im Schlaf ausgebreitet, sie liegt ganz ohne Not auf ihrer engen Hälfte der Matte, sie hat darauf gewartet, dass ich heimkomme und mir Platz gelassen. Ich sehe ihre dunklen Locken auf dem Kissen. Sie regt sich. Gleich wird sie sich aufsetzen und mich sehen und sich freuen, dass ich wieder da bin. Ich war noch nie über Nacht weg, ich war immer neben ihr; hoffentlich hat sie überhaupt schlafen können. Vielleicht läuft sie mir entgegen, in meine Arme. Ich werde bei ihr anfangen müssen und schnell sein, damit sie nicht versteht, was passiert, bevor es vorbei ist, und damit es nicht wehtut. Sie wird alles andere nicht sehen müssen. Und ein bisschen später wird es keiner gesehen haben, weil keiner mehr da ist. Außer mir. Ich werde alles sehen.
Ich habe solchen Hunger, aber ich warte, warte darauf, dass meine Nichte wach wird und mich sieht, und ich denke an später, um nicht an gleich zu denken. Später, nach der Fluchtburg, die Hütten der Kohlebrenner, heute Abend vielleicht. Dann die Ochsenbauern in ihrem Hof auf dem Hügel. Ich bin eine Überlebende aus dem befestigten Dorf, das jetzt gefallen ist; die einzige Überlebende, ich werde vor Schreck die Sprache verloren haben, und sie werden mich einlassen.

Ich weiß nicht, wohin dann und was es dann noch gibt; ich kenne nur den Wald auf dieser Insel, und die Inseln von Menschen im Wald, es sind nicht viele; ich weiß nicht, wo noch jemand wohnt. Und ich werde immer noch Hunger sein, und Durst. Ich werde wohl das Meer austrinken gehen.

 

Das ist es, was geschieht, was keiner erzählt und keiner hört, weil niemand mehr da ist.

 
 
 

Aber jetzt bist du da. Die Welt ist so, dass du darin bist, und sie spiegelt sich in deinen Augen.
Kurz vor den Mauern der Stadt unter dem grauen Winterabendhimmel, während der sechs Schritte bis zur nächsten Biegung, werfe ich etwas in die Luft. Ein Krähenschwarm fliegt uns entgegen, knapp über den Baumkronen, und gesellt sich zu der einen Krähe hinter uns, um in den Bäumen zu schlafen. Geschichten sind zäh, aber Krähen sind Krähen. Sie fliegen noch einmal auf, ein Wirbel aus Schwarz und Kreischen, und setzten sich schließlich zurecht für die Nacht. Dann ist es still.

– Es ist vielleicht ganz einfach. Natürlich sind es neun Tore, eines zu jeder Welt; aber das ist auch eine andere Geschichte. Es ist immer ein bisschen so wie es ist, und ein bisschen, wie man es erzählt, und ein bisschen so wie der, dem man es erzählt, und jetzt erzähle ich es dir und es ist so:

Neun Tore, in jede Richtung eines. Niemand hat je versucht, uns anzugreifen, oder wir wissen es nicht; vielleicht gehen sie ja im Wald verloren, bevor sie unsere Tore erreichen. Die, die kommen, landen ihre Schiffe am Ufer an, dort wo wir ein paar Stege aus kleinen Baumstämmen gebaut haben, damit sie es leichter haben; dann kommen sie zu unsren Toren oder wir zu ihren Schiffen, und wir treiben Handel, und dann segeln sie wieder fort. Aber bevor sie wieder aufbrechen, feiern wir; wir schlachten zweijährige hornlose Ochsen, und die besten Hammel, und es gibt geröstete Zuckerwurzeln und große frische Brotfladen und Erbsenbrei mit warmem Öl darüber, und Bier. Wir feiern an dem Tor, das ihrem Schiff am nächsten liegt, aber alle Tore stehen offen, und an allen Toren brennen Feuer und gibt es zu essen, und wir wissen nie genau, ob es nur Grüppchen von uns selber sind, die irgendwann dort weiterfeiern, und ob uns die Musik von den anderen Toren so schön vorkommt, und das Gelächter so hell, und die Stimmen so fremd, weil wir es von weiter weg hören und weil wir alle betrunken sind und niemand mehr zu sagen weiß, wo genau alle in der Nacht waren, und ob die vielen Fremden von den paar Handelsschiffen kamen, und warum man sich an Gesichter erinnert, die man zuvor und danach nie gesehen hat, an helle Augen wie Tropfen in den Zweigen und dunkle wie Tümpel unter Bäumen, und an Haar, das nach Mailaub und Gras riecht.
Am nächsten Tag stehen wir auf, aus unseren Betten oder aus den Wiesen, in denen wir eingeschlafen sind, und vergraben die Reste des Festmahls vor den Toren, bevor wir sie wieder schließen, alle neun.
Die anderen segeln fort, nehmen wir an, obwohl auch Fußspuren in die anderen acht Richtungen verschwinden. Leichte Fußspuren. Während wir die Steine über die Festgruben setzen, für dieses Mal, hören wir manchmal etwas aus dem Wald, das klingt wie das Rieseln von Bächen und Blätterrascheln.
Sie segeln fort, oder sie verschwinden im Wald, wir wissen es nicht genau; aber ich (und ich glaube, nur ich) weiß jetzt ja: manchmal nicht alle.
Niemand hat je versucht, uns anzugreifen, oder wir wissen es nicht; vielleicht verlieren sie sich im Wald, bevor sie unsere Tore erreichen.

Jetzt sind wir da. Vor dem Tor, durch das ein Freund uns einlassen wird, für heute Nacht, ins Warme, in mein Warmes; wenn wir uns aufgewärmt haben und satt sind von Brot, Käse und Bier, wenn wir geschlafen haben, dann können wir wieder hinausgehen, unter deinen offenen Himmel, an deinen Bächen entlang unter deinen Bäumen, aber für jetzt, komm; komm her.

 

:-:-:

 
 

Neun Tore, zu jeder Welt eines; aber es ist eine andere Geschichte, und ich werde sie einem anderen erzählen.