Schrödingers Enby

Ich bin Schrödingers Enby. Männlich und weiblich und weder noch, aber nur solange keiner nachsieht. Denn wenn sie nachsehen zu müssen meinen, dann meinen sie, es gebe da eine Kiste, und die müsse man aufmachen, und dann würde sich rausstellen, was ich wirklich bin: Mänllich. Oder: weiblich. Und was dann, wenn sie meinen, nur nachzusehen? Das Ergebnis ist nicht unabhängig vom Beobachter, oh nein. Das Ergebnis ist ganz und gar abhängig vom Beobachter. Die Unschärfe ist so groß wie ich, aber was der Beobachter meint zu sehen, das bin ich. In seiner Box. Die Box ist gleichzeitig da und nicht da, für sie da, für mich nicht. Ich bin in der Box, obwohl ich gar nicht darin bin, kann ich auch nicht nicht darin sein. Und dieVersuchsanordnung ist leider gewaltig. Sie ist fast überall.
 
Du bist immer noch Frau Alter Name, sagt der Chef, du kannst nicht beim Kunden mit einem Vornamen zeichnen, der nicht deiner ist. Es stört die Betriebsordnung, wenn da jemand angemeldet wird, der gar nicht da ist. Das denke ich auch, aber offensichtlich funktioniert das nur in eine Richtung nicht. Es stört die Betriebsordnung nicht, wenn angeblich eine Frau herumläuft, die es nicht gibt und die keiner sieht? Richtig: Denn sie werden dann schon eine Frau sehen, es steht ja schießlich so auf ihrem Zettel. Der Beobachter bestimmt das Ergebnis.
Du musst nachsichtig sein, oder auch: Was willst du? Wir kennen dich hier seit vier Jahren als Frau und dann willst du „er“ genannt werden, du musst schon entschuldigen, das geht nicht so schnell. Sie kannten mich drei Jahre – kannten sie mich? – als Frau*. Und mittlerweile ein Jahr als mich. Meine Stimme ist eine halbe Oktave tiefer, ich bin mitten im Stimmbruch. Und das sollte es noch nicht mal brauchen.
Mei, du Arme, dich erwischsts aber auch immer wieder mit der Erkältung![1]
Mir wächst heller Flaum im Gesicht, das langsam immer kantiger wird, ich weiß noch nicht genau, was ich davon halte. Und darauf sollte es noch nicht mal ankommen.
Also ich krieg das nicht hin mit dem Pronomen, das musst du schon verstehen. Ich will dich ja nicht enttäuschen, aber man sieht da einfach keinen Unterschied.
Na gut, was weiß ich schon. Dann sieht man es eben nicht. Im öffentlichen Raum ein (w). Ja?
 
Beim Konzert sitzt vorm Klo einer, der da nach der Sauberkeit sieht und offenbar auch ein bisschen aufpasst, denn er greift mir hart in die Armbeuge und weist mit dem Kopf Richtung Männerklo. Es ist sehr laut, ich kann nur lachend die Arme ausbreiten. Ich bin abgebunden. Ich könnte auch einfach eine kleine Brust und kurze Haare haben. Es hilft natürlich nichts. Der Gesichtsausdruck meines Gegenübers wandelt sich von grimmig zu böse, der Griff in der Armbeuge wird härter, der Kopf weist bestimmter, die freie Hand deutet jetzt auch eins weiter, befiehlt. Ich schlage die angewiesene Richtung ein, Angeklagter, der sich gerade schuldig erklärt hat: Ich gestehe, ich gebe alles zu, ich bin ein Typ, der sich auf Frauenklos schleichen will, widerlich! Leise Panikstimme im Hinterkopf: Wenn er mich jetzt rauswerfen lassen will? Sollte er eigentlich, wenn er mich schon für ein übergriffiges Arschloch (m) hält. Muss ich dann einen Striptease hinlegen, um meine Unschuld (w) zu beweisen? Zum ersten Mal bin ich froh, dass in meinem Perso noch mein alter Vorname steht.
Und muss gleichzeitig lachen. Und im Kopf höre ich den Refrain:
Ich geb mir ja Mühe, aber ich seh einfach nichts Männliches an dir!
Im grellen Licht im Männerklo stehen sie an Pinkelinseln, einfach hinter den Rücken vorbeigehen kann man da nicht. Woanders hinsehen, spekulierende Blicke meiden, Kabine finden, Tür zu, gut. Beim Rausgehen kommt mir einer entgegen, guckt mich an, guckt das Schild über der Tür an, sagt nichts. Geht weiter.[2]

Sie beobachten ja nur, glauben sie jedenfalls. Es interessiert sie ja auch überhaupt nicht, sie machen da gar keinen Unterschied, sagen sie jedenfalls, sich selbst und mir. Sie geben mir eine Wand mit zwei Durchgängen und sehen zu, was ich mache – denken sie jedenfalls: Dass sie nur zusehen. Während sie mich mit aller Macht in eins der beiden Löcher schubsen. Dann stellen sie fest: Ich bin durch eins davon hindurchgegangen, und zwar für dieses Mal durch nur eines davon. Gewonnen: Wo sie zwei Durchgänge machen, muss ich durch genau einen davon, wenn ich weiterwill. Oder geschubst werde.
Dann ist ja geklärt, was ich bin. Genau. Ein. Partikel.

Und dann wundern sie sich, dass ich trotzdem noch weiß, wo mein Anderes ist, und dass ich immer noch Interferenzmuster mache, nur mit mir selbst. Dann wundern sie sich, dass ich immer noch eine Welle bin.

Und dass man manchmal einfach nur schnell pissen gehen will, ohne über Quantentheorie nachdenken zu müssen.[3]

 

 

 

[1]Optionale Extras: nachgeschobene Entschuldigung und/oder Mahnung zur vorauszusetzenden Nachsicht, s.o.; tagesaktueller Corona-Scherz.

[2]Weeste was: Demnächst dann halt im Gang an die Wand, exakt in die Mitte zwischen den zwei Türen.

[3]Vgl. jedoch auch Amrou Al-Kadhi (aka. Glamrou), „What quantum physics taught me about queer identity“. Vgl. bitte nicht sieben Semester Physik. Zu lang her.